„Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille!” –
Opposition und Widerstand im Norden der DDR 1949 bis 1953

Einführung

Verkündung des Aufbaus des Sozialismus

„In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei beschlossen, […] daß in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.”

(SED-Generalsekretär Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz im Juli 1952)

Am 7. Oktober 1949 erfolgte auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die Konstituierung des neuen Staates war die Antwort der Besatzungsmacht und der mit ihr verbündeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auf die Verkündung des Grundgesetzes und den Sieg des bürgerlichen Lagers bei den in den drei Westzonen durchgeführten Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag. Darüber hinaus markierte die Staatsgründung eine weitere Etappe bei der schrittweisen Umgestaltung der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft zur „Volksdemokratie” nach dem Muster der Sowjetunion. Da sich die sowjetische Deutschlandpolitik bis 1952 die Option zur Schaffung eines ungeteilten, aber neutralen Gesamtstaates offen gehalten hatte, wurde erst in diesem Jahr der Übergang von der „antifaschistisch-demokratischen” zur „sozialistischen” Ordnung verkündet.

Danach kam es unter Einsatz härtester Repression zu einer den kommunistisch-stalinistischen Vorstellungen der Parteiführung entsprechenden Umformung von Staat und Gesellschaft. Ihr totalitärer Kurs, der erst mit dem Tod des sowjetischen Diktators Josif W. Stalin 1953 abgemildert wurde, zielte auf die Durchsetzung der „führenden Rolle” der Partei, die Errichtung eines Meinungsmonopols mit dem Marxismus-Leninismus als herrschender Ideologie, die Zerschlagung der Reste föderaler und kommunaler Selbstverwaltung, das Anwachsen des staatlichen Eigentums in Industrie und Handel, den Beginn der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft, den Aufbau einer zentral geleiteten Planwirtschaft sowie die verstärkte Politisierung von Justiz, Bildung und Kultur. Der zügige Ausbau der Diktatur, die immer härtere Verfolgung durch die sowjetischen Geheimpolizei und später durch das Ministerium für Staatssicherheit, der sich zuspitzende Ost-West-Konflikt sowie die verbreitete Hoffnung auf eine baldige Lösung der offenen deutschen Frage hatten ein erhebliches Maß von Opposition und Widerstand zur Folge. Höhepunkt war der spontane Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der ausgehend von Berlin, kurzfristig fast die gesamte DDR erfasste.

Trotz der noch offenen Grenzen und der dadurch möglichen Unterstützung aus dem Westen waren Opposition und Widerstand stets Reaktionen aus der Bevölkerung heraus und nicht – wie von der SED-Propaganda behauptet – ein von außerhalb der DDR gesteuertes Verhalten. Somit war es die Staatsmacht selbst, die durch die Art ihres Umgangs mit den Menschen politische Gegnerschaft provozierte.

Das Spektrum widerständigen Verhaltens war sehr vielfältig: Es reichte von individueller Verweigerung zu kollektivem Protest, von kritischen Äußerungen bis hin zu passiver und aktiver Gegenwehr. Einige Kommunisten wandten sich gegen die Unterwerfung ihrer Partei unter die Interessen der Sowjetunion. Sozialdemokraten innerhalb der SED wehrten sich gegen die Entwicklung zu einer kommunistischen Kaderpartei. Bürgerliche Politiker in CDU und LDP rangen gegen ihre politische Vereinnahmung durch die Einheitspartei.
Opposition und Widerstand formierten sich aber auch außerhalb der Parteien: in den Kirchen, an den Universitäten und Oberschulen oder in den Betrieben.

Häufige Motive waren das individuelle Erleben von Menschenrechtsverletzungen, ideologischer Indoktrination, Eingriffen in das Geistesleben, Unterdrückung der Religionsfreiheit sowie die unmittelbare Wahrnehmung sozialer Repression und Missstände. Dabei spielte auch die Rückbesinnung auf die Zeit des „Dritten Reiches” eine Rolle sowie daraus resultierende Feststellungen über teils äußerliche, teils auch inhaltliche Ähnlichkeiten von Erscheinungen des SED-Regimes mit denen der vorangegangenen Diktatur.
Auch im Norden der DDR gab es trotz hemmender Faktoren (z.B. die geringe Bevölkerungsdichte, die ländliche Siedlungsstruktur, die fehlende Widerstandstradition und das verbreitete Obrigkeitsdenken) immer wieder Einzelne und Personenkreise, die gegen Unrecht und Unterdrückung aufbegehrten.
Das Anliegen dieser Ausstellung ist es, ihr couragiertes Eintreten für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde in den frühen Jahren der DDR in Erinnerung zu rufen.

 


Zeitleiste

1949

19.03. – Der Deutsche Volksrat billigt die Verfas-sung für eine „Deutsche Demokratische Republik”.
23.05. – Verkündung des Grundgesetzes.
14.08. – Wahlen zum 1. Deutschen Bundestag.
15.09. – Konrad Adenauer (CDU) wird Bundeskanzler.
07.10. – Gründung der DDR.
11.10. – Wilhelm Pieck (SED) wird Präsident der DDR.
12.10. – Vorstellung der ersten DDR-Regierung unter Ministerpräsident Otto Grotewohl (SED).
31.10. – Die Bundesrepublik wird Mitglied des Europäischen Wirtschaftsrates.
22.11. – Petersberger Abkommen über die Eingliederung der Bundesrepublik in die westeuropäische Gemeinschaft.

1950

08.02. – Gründung des Ministeriums für Staats-sicherheit (MfS) in der DDR.
20.07.-24.07. – Der III. SED-Parteitag markiert den Wandel der Organisation zu einer stalinistischen „Partei neuen Typus”.
25.07. – Wahl Ulbrichts zum SED-Generalsekretär.
24.08. – Politische Säuberungsaktion in der SED-Führung.
31.08. – Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR.
12.09.-18.09. – Die New Yorker Außenministerkonferenz der drei Westmächte erklärt die Bundesregierung zur einzigen legitimierten Vertretung des deutschen Volkes.
29.09. – Die DDR wird Mitglied des von der Sowjetunion geführten Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe.
15.10. – Wahlen zur Volkskammer, zu den Landtagen, Kreistagen und Gemeindevertretungen nach Einheitslisten. Resultat: 99,7 Prozent Ja-Stimmen.
20.10-21.10. – Die Prager Außenministerkonferenz der Ostblockstaaten unter Beteiligung der DDR protestiert gegen die Beschlüsse der New Yorker Außenministerkonferenz.
19.12. – Die NATO-Konferenz in Brüssel billigt die Schaffung einer transatlantischen Armee unter Einbeziehung westdeutscher Streitkräfte.

1951

01.01. – Beginn des ersten Fünfjahrplanes in der DDR.
05.05. – Die Bundesrepublik wird vollberechtigtes Mitglied des Europarates.

1952

Frühjahr – Beginn der „sozialistischen Umgestaltung” der Landwirtschaft in der DDR.
08.05. – Ankündigung „Nationaler Streitkräfte der DDR”.
26.05. – Unterzeichnung des Deutschlandvertrages der drei Westmächte mit der Bundesrepublik (Verleihung der Souveränität).
DDR-Verordnung über eine 5 km breite Sperrzone entlang der Demarkationslinie.
27.05. – Unterzeichnung des Vertrages über die Errichtung der Europäischen Verteidigungsunion durch die Bundesrepublik.
09.07.-12.07. – Die II. Parteikonferenz der SED beschließt die „planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR”.
23.07. – Gesetz über die Abschaffung der Länder und die Neugliederung der DDR in 14 Bezirke und 217 Kreise.

1953

Feb. / März – „Aktion Rose” zur Enteignung des gewerblichen Mittelstandes an der DDR-Ostseeküste.
05.03. – Tod des sowjetischen Diktators Josif Stalin.
März – Mai – Höhepunkt der Kampagne gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde an den Oberschulen der DDR.
15.04. – Das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion legt dem Zentralkomitee der SED nahe, den scharfen Kurs zu mildern.
05.05.SED-Chef Walter Ulbricht spricht erstmals offen aus, dass in der DDR der Staat „die Funktion der Diktatur des Proletariats” ausübe.
11.06. – Verkündung eines „neuen Kurses” durch die SED.
17.06. – Arbeiteraufstand in der DDR.

 


Albert Schulz

* 11.10.1895 in Rostock – † 26.07.1974 in Hamburg

 
Ein Kommunalpolitiker behauptet sozialdemokratische Positionen

„Ich habe geglaubt, als Oberbürgermeister so arbeiten zu müssen, daß ich jeden Tag mit meiner Arbeit für die Partei Ehre einlegen könnte.”

(Albert Schulz auf einer Landesvorstandssitzung der SED im Juli 1949)

Albert Schulz gehörte seit früher Jugend der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an. 1921 begann seine parlamentarische Karriere im Landtag von Mecklenburg-Schwerin. 1932 entsandte ihn die Partei in den Reichstag. Während des Nationalsozialismus setzte er die Tätigkeit für die Sozialdemokratie illegal fort und geriet mehrfach in Haft.

Nach dem Ende des „Dritten Reiches” beteiligte er sich aktiv am Wiederaufbau. 1945 wurde er zum Ortsvorsitzenden sowie zum Leiter des SPD-Kreisverbandes Rostock gewählt. Das Angebot, den Landesvorsitz zu übernehmen, lehnte er wegen der zu erwartenden Meinungsverschiedenheiten mit der Sowjetischen Militäradministration ab. Diese setzte ihn überraschend als Oberbürgermeister in Rostock ein. Die damit verbundene Hoffnung, ihn politisch stärker in die SED einzubinden, erfüllte sich jedoch nicht. In der Bevölkerung war der neue OB überaus populär. Bei den Wahlen im September 1946 erhielt er die Bestätigung für seine Amtsführung. 1947 wurde er wegen angeblicher Geldverschiebungen durch das Sowjetische Militärtribunal in Schwerin zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Dank der Fürsprache durch den späteren DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck wurde Schulz begnadigt und durfte seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen. 1949 geriet er erneut in Widerspruch zu den Kommunisten als er sich gegen die Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltung aussprach. Nach einem Parteiverfahren und der Absetzung von seinem Posten floh er mit seiner Familie in den Westen.

1902-1910 – Schulbesuch in Rostock.
1910-1914 – Lehre als Maschinenbauer.
1913 – Eintritt in die SPD.
1915-1918 – Kriegsdienst.
1918 – Mitglied des Rostocker Soldatenrates.
1921-1933 – Landtagsabgeordneter.
1924-1933 – Gauführer des Reichsbanners.
1926 – Redakteur der Meckl. Volks-Zeitung.
1931-1933 – Mitglied des SPD-Bezirksvorstandes; Ortsvorsitzender in Rostock.
1932 – Mitglied des Deutschen Reichstages.
1933 – Übernahme eines Tabakgeschäftes.
1939/40 – Kriegsdienst, anschl. Dienstverpflichtung als Zivilangestellter bei der Luftwaffe.
1945 – Mitbegründer der SPD in Rostock; Wahl zum Ortsvorsitzenden und Leiter des Kreisverbandes.
1946 – OB der Stadt Rostock; Übernahme in die SED.
1947 – Verurteilung zu zehn Jahren Zwangsarbeit; Aufhebung des Urteils; Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte.
1949 – Amtsenthebung; Flucht nach West-Berlin; Ausschluss aus der SED.
1950-1953 – Leiter des Büros der Hamburger Bundestagsabgeordneten der SPD.
1953-1963 – Bezirkssekretär und Stellvertretender Vorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein.
1999 – Rehabilitierung.


Dr. Siegfried Witte

* 09.02.1897 in Rostock – † 19.11.1961 in Frankfurt am Main

 
Als Wirtschaftsminister in Opposition zur SED

„Im Interesse des ganzen Volkes wenden wir uns gegen eine weitere Ungestaltung der Wirtschaft der Ostzone in eine kommunistische Wirtschaft. Die gegenwärtigen […] Zustände entsprechen den Forderungen der Entmilitarisierung, der Demokratisierung und der Sicherung der Friedenswirtschaft. Eine weitere Umgestaltung wird von der Mehrheit des deutschen Volkes abgelehnt.”

(Dr. Siegfried Witte in einem Zeitungsartikel von 1948)

Siegfried Witte stammte aus einer wohlhabenden Rostocker Familie, die seit Generationen eine chemisch-pharmazeutische Fabrik und Apothekengroßhandlung betrieb. Während der Weimarer Republik trat er politisch in die Fußstapfen seines Vaters und engagierte sich für die von ihm mitbegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP). Im August 1945, vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Krieg und Gewaltherrschaft, drängte es den Sohn stärker in die Politik. In Rostock zählte er neben anderen ehemaligen DDP-Mitgliedern zu den Mitbegründern der CDU. Ein knappes Jahr später wurde er als Wirtschaftsminister in die Landesregierung berufen. Damit war Mecklenburg-Vorpommern das einzige Land der SBZ/DDR, in dem kein SED-Mitglied dieses Amt innehatte. Da sich Dr. Witte für einen „christlichen Sozialismus” aussprach, schien er aus Sicht der KPD/SED ein geeigneter Partner innerhalb der bürgerlichen CDU zu sein. Die mit den zunehmenden Zentralisierungstendenzen wachsende Vorherrschaft der „Einheitspartei” brachte ihn jedoch in politische Widersprüche. Wiederholt stellte er sich gegen deren Positionen und verteidigte demokratische Alternativen. Da Witte den entscheidenden Antrieb zur Produktionssteigerung in einem gleichberechtigten Wettbewerb zwischen privater und „volkseigener” Wirtschaft sah, wurde er zunehmend zu einem Opponenten. 1950 zettelte die SED eine Kampagne gegen die „Witte-Clique” an, in deren Folge der Minister kurzzeitig inhaftiert wurde. Um weiteren Repressalien zu entgehen, floh er in die Bundesrepublik.

1903-1914 – Schulbesuch in Rostock.
1914 – Kriegsabitur an der Großen Stadtschule.
1914-1918 – Kriegsdienst an der Westfront.
1919-1921 – Studium der Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre in Berlin und Frankfurt am Main.
1920 – Prüfung zum Diplom-Kaufmann.
1921 – Promotion zum Dr. rer. pol.
1921-1923 – Angestellter in der großväterlichen Firma „Friedr. Witte, Chemische Werke und Drogengroßhandlung” in Rostock.
1924 – Mitinhaber der Firma.
1931 – Ernennung zum spanischen Vizekonsul für Mecklenburg-Schwerin und -Strelitz.
1938 – Übernahme der Geschäftsleitung des Familienunternehmens.
1945 – Begründer der Ortsvereinigung Rostock der CDU und 1. Vorsitzender.
1946 – Vorsitzender der Kreisverbandes Rostock der CDU; Mitglied des Landtages und der Rostocker Stadtvertretung.
1946-1950 – Wirtschaftsminister in der mecklenburgischen Landesregierung.
1950 – Entlassung als Minister; Ausschluss aus der CDU wegen „parteischädigenden Verhaltens”; Flucht nach West-Berlin.
1951-1961 – Geschäftsführer des Königsteiner Kreises, einer Vereinigung geflüchteter Juristen, in Frankfurt am Main.


Dr. Bernhard Schräder

* 26.09.1900 in Hörstel/Westfalen – † 10.12.1971 in Osnabrück

 
Ein katholischer Pfarrer kritisiert den Staat

„Der Westen aber müßte in ganz anderer Weise als bisher protestieren gegen die barbarische Maßnahme der Aussiedlung mitten im Frieden. Sollte es nicht möglich sein, eine alle Kreise der Bevölkerung umfassende Welle der Auflehnung zustande zu bringen?”

(Bernhard Schräder in einem Bericht an den Osnabrücker Bischof vom 16. Juni 1952 über die Zwangsaussiedlungen im Grenzgebiet zur Bundesrepublik)

Bernhard Schräder wurde 1936 zum Seelsorger der katholischen Gemeinde St. Anna in Schwerin ernannt. Während der NS-Zeit war er vor allem bemüht, die 1939 vollzogene Schließung der von der Gemeinde betriebenen Privatschule zu verhindern, an der auch Kinder jüdischer und polnischer Eltern unterrichtet wurden. Darüber hinaus kümmerte er sich um die Seelsorge ausländischer Zwangsarbeiter.
Nach dem Krieg setzte sich Dr. Schräder u. a. für die Wiederzulassung konfessioneller Schulen ein, für Religionsunterricht an staatlichen Schulen und die Verankerung von Elternrechten in künftigen Schulgesetzen. Gegen das 1946 von der SED durchgesetzte „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule” erhob er schärfsten Protest.
Als Bischöflicher Kommissar für Mecklenburg engagierte er sich für bedrängte Glaubensgenossen wie den verschleppten Warnemünder Pfarrer Hermann Jansen.
In seinen Berichten an den Osnabrücker Bischof schilderte er die zunehmende Stalinisierung der ostdeutschen Gesellschaft. Darin ermunterte er auch zu öffentlicher Kritik an politische Zwangsmaßnahmen wie der Aussiedlung von Bewohnern aus dem Grenzgebiet zur Bundesrepublik. Da Schräder bei jeder Gelegenheit gegen die staatliche atheistische Propaganda auftrat, geriet er rasch ins Visier des Staatssicherheitsdienstes. In einem Spitzelbericht hieß es: „Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Schräder kaum eine Predigt hält, die er nicht zu politischen Ausfällen mißbraucht”.

1918 – Abitur am Gymnasium Carolineum in Osnabrück; Kriegsdienst.
1919-1926 – Studium der Altphilologie, Nationalökonomie und katholischen Theologie in Neumünster, Hamburg und Freiburg.
1924 – Promotion zum Dr. rer. pol.
1926 – Priesterweihe im Dom zu Osnabrück.
1927-1931 – Kaplan in Neumünster.
1931 – Ernennung zum Vorsteher des Konferenzbezirkes West des Dekanats Mecklenburg im Bistum Osnabrück.
1931-1936 – Kaplan in Nordhorn.
1936-1946 – Pfarrer in Schwerin.
1939 – Berufung zum Kamerar des Dekanats Mecklenburg.
1945/46CDU-Mitgliedschaft; Mitglied im Kirchenausschuss beim CDU-Landesvorstand und im Schul- und Lehrerausschuss der CDU-Ortsvereinigung; Parteiaustritt.
1946 – Bischöflicher Kommissar für das Dekanat Mecklenburg.
1958 – Ernennung zum Generalvikar für Mecklenburg.
1959-1970 – Weihbischof.
1961 – Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen „Beihilfe zur Republikflucht und Verstoßes gegen das Passgesetz”.
1970 – Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen; Umzug nach Osnabrück.


Ewald Kaven

  * 05.12.1924 in Retelsdorf bei Schönberg

Ein Zeuge Jehovas verteidigt seinem Glauben

„Auch wenn dicke Mauern uns vor der Außenwelt trennten, so waren wir dennoch freie Menschen, die keine Sklaven wurden, sondern alles taten, um Gottes Willen zu tun, und das ohne Auflehnung oder anderen zu schaden.”

(Ewald Kaven über die gemeinsamen Hafterfahrungen mit seinen Glaubensbrüdern und -schwestern)

Ewald Kaven verlor früh die Eltern und wuchs bei seinem Halbbruder in Schönbeck auf. Als er eine Lehre beginnen sollte, wurde er zunächst Schmied. Nach der Beendigung seiner Ausbildung 1942 verpflichtete er sich zum Kriegsdienst in der Marine. Das Erlebnis des gewaltigen Bombenangriffs auf Swinemünde gegen Kriegsende war ein Wendepunkt in seinem Leben. Danach entschloss er sich, nie wieder an einem Krieg teilzunehmen. Nach 1945 arbeitete Kaven erst als Transportarbeiter im Wismarer Hafen, später als Schlosser auf der Werft. 1946 kam er erstmals mit den Zeugen Jehovas in Kontakt. Die mutige Haltung, die viele von ihnen während der NS-Zeit eingenommen hatten, imponierte ihm derart, dass er sich ihnen anschloss.
Am 31. August 1950 erfolgte das Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR. Etliche von ihnen, die bereits in den KZs der Nazis verbracht hatten, gerieten erneut in Haft. Kaven blieb zunächst auf freiem Fuß, musste sich jedoch täglich bei der Polizei melden. Während einer Haussuchung wurden diverse Materialien beschlagnahmt. Trotz dieser Einschüchterungsversuche bewies er Mut und weigerte sich als einziger im Betrieb, der Einheitsgewerkschaft beizutreten. Infolge der Verhaftung des Dassower Gruppendieners übernahm Ewald Kaven den illegalen Predigtdienst. Vier Jahre nach dem Verbot wurde aber auch er verhaftet und wegen „Boykotthetze” zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ungeachtet dessen beteiligte er sich während der Haft an illegalen Bibelstunden mitgefangener Glaubensbrüder.

1931-1940 – Volksschule in Schönberg.
1940-1942 – Berufsausbildung im Schmiedehandwerk.
1942-1945 – Kriegsteilnahme auf einem U-Boot der Marine.
1945-1950 – Brunnenbauer in Schönberg.
1946 – Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas.
1949 – Erste Haussuchung, Beschlagnahme von religiöser Literatur.
1950 – Zweite Haussuchung vor dem offiziellen Verbot der Zeugen Jehovas.
1950-1954 – Schlosser auf der Schiffswerft in Wismar.
1954 – Verhaftung; Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus.
1954-1960 – Verbüßung der Freiheitsstrafe in der Strafvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen.
1955 – Übersiedlung der Ehefrau und der Kinder nach West-Berlin.
1960 – Amnestierung und Haftentlassung nach West-Berlin.
1960-1986 – Als Maschinenschlosser beschäftigt, zuletzt 18 Jahre bei Daimler-Benz.
1986 – Vorruhestand.

 


Arno Esch

* 06.02.1928 in Memel – † 24.07.1951 in Moskau

 
Ein Liberaler streitet für den Rechtsstaat

„Die Wasser der Weltgeschichte fließen alle zum Meer, das Freiheit heißt, und haben sich niemals umkehren lassen. Überlange Stauung bricht die Dämme!”

(Arno Esch im Kreis seiner politischen Freunde)

Arno Esch war ein radikaler Liberaler, der es verstand, junge Menschen für die Idee des demokratischen Rechtsstaates zu gewinnen. Zum Motto seines Handelns machte er den Ausspruch des Dichters Alphonse Lamartine: „Ich bin Mitbürger eines jeden der denkt – mein Vaterland ist die Freiheit!” Ende des Krieges gelangten Esch und seine Mutter als Vertriebene nach Schönberg. 1946 nahm er in Rostock ein Studium auf. Ehrgeizig und talentiert, strebte er eine akademische Laufbahn an. 1946 trat er der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) bei. Hier setzte er sich nicht nur für die Verwirklichung liberaler Vorstellungen in der Jugend- und Hochschulpolitik ein, sondern plädierte für Gewaltenteilung in der Landesverfassung, die Gewährleistung der Bürgerrechte und die Abschaffung der Todesstrafe. Aufgrund seines über die Region hinaus ausstrahlenden politischen Talents und seiner visionären Kraft wurde Esch zum Hoffnungsträger der LDP. Ab 1947 war er am Aufbau einer als illegal angesehenen Parteijugendorganisation beteiligt, die Verbindungen zu geflüchteten LDP-Politikern unterhielt. 1949 verfasste er mit Freunden ein geheimes Manifest für eine „Radikal-soziale Freiheitspartei”. Diese war als Sammlungsbewegung für die Zeit nach der Wiedervereinigung gedacht.
Nach öffentlichen Äußerungen gegen die SED-Vorherrschaft wurden Esch und sein Freundeskreis vor ein Militärtribunal gestellt. In dem Prozess gegen 14 Angeklagte, überwiegend Studenten, wurde er zum Tode verurteilt. Mit 23 Jahren wurde Arno Esch hingerichtet.

1934-1944 – Schulbesuch in Memel.
1944/45 – Marineflakhelfer in Swinemünde.
1945 – Entlassung vom Kriegshilfsdienst; Rückkehr an den neuen Wohnsitz Altdamm bei Stettin; Vertreibung und Flucht nach Schönberg/Mecklenburg.
1945/46 – Besuch der Oberschule in Grevesmühlen.
1946 – Abitur; danach Studium zunächst der Wirtschaftswissenschaften, später Jura in Rostock; Eintritt in die LDP; Kreisjugendreferent in Schönberg.
1947 – 2. Vorsitzender des Landesjugendbeirates Mecklenburg-Vorpommern; Landesjugendreferent und Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstandes der LDP.
1948 – Mitglied des geschäftsführenden LDP-Zentralvorstandes; Mitglied der LDP-Programmkommission; Beisitzer im LDP-Zentralvorstand.
1949 – Beisitzer im Landesvorstand Mecklenburg der LDP; Verhaftung.
1950 – Verurteilung zum Tode durch das Sowjetische Militärtribunal in Schwerin.
1951 – Bestätigung des Todesurteils; Hinrichtung.
1991 – Rehabilitierung.


Margarete Reuter

* 03.04.1928 in Hohenkirchen bei Wismar

 
Christliche Nächstenliebe als Straftat

„Immer wieder erzählte er mir von meinem Verbrechen. Es rauschte nur so an mir vorüber. Doch dann kam der Satz: ‘Und ich sage Ihnen: Gehen Sie nicht wieder zur Kirche, wenn Sie überhaupt noch einmal das Tageslicht wiedersehen sollten.’Nach solcher Tortur fragte ich mich: Was hat man bloß getan, daß man zu solchem Verbrecher gestempelt wird.”

(Margarete Wegener, geborene Reuter, über die Begegnung mit einem Vernehmer während ihrer Untersuchungshaft)

Margarete Reuter stammt aus einer christlichen Altbauernfamilie. Sie begann 1947 eine Neulehrerausbildung, arbeitete dann als Schulamtsanwärterin, bevor sie sich ab 1949 zur Religionslehrerein ausbilden ließ.
Zusammen mit anderen Teilnehmern des Katechetischen Seminars Schwerin begab sie sich häufig zur nahe gelegenen Haftanstalt, um den Gefangenen durch Gesänge Trost zu spenden. Da das Singen auf offener Straße von einem Polizisten mit dem Hinweis untersagt worden war, dass es sich bei den Inhaftierten um „Kriegsverbrecher” handle, wurden die Gesänge auf dem Balkon des Seminargebäudes fortgesetzt. Zu weiteren Zusammenstößen mit der Polizei kam es nicht mehr. Nach Beendigung der Ausbildung wurde der jungen Frau eine Anstellung als Katechetin in Brüel zugewiesen. Im dortigen Pfarrhaus erteilte sie Kindern aus christlichen Elternhäusern Konfirmandenunterricht. Zugleich hielt sie wöchentliche „Jungmädchen-Stunden” ab, aus denen die örtliche Junge Gemeinde hervorging. Während einer dieser Stunden berichtete sie von ihren Schweriner Erlebnissen. Aufgrund einer Denunziation fand im Pfarrhaus eine Durchsuchung statt, bei der ein harmloses Buch mit dem Titel „Die Schwestern aus Memel” gefunden wurde. Nachdem Reuter einräumte, den Heranwachsenden daraus vorgelesen zu haben, wurde sie beschuldigt, „Boykotthetze” betrieben und dadurch „den Frieden des deutschen Volkes und den der Welt gefährdet” zu haben. Auf dem Höhepunkt der SED-Kampagne gegen die Junge Gemeinde wurde sie mit acht Jahren Zuchthaus bestraft.

1934-1945 – Schulbesuch in Hohenkirchen und Wismar.
1945 – Abschluss der Mittelschule in Wismar.
1945-1947 – Beschäftigung auf dem elterlichen Hof.
1947/48 – Neulehrerausbildung in Stralsund.
1948/49 – Schulamtsanwärterin in Groß-Wolterdorf bei Wismar.
1949-1951 – Besuch des Katechetischen Seminars in Schwerin.
1951-1953 – Katechetin in Brüel.
1953 – Verhaftung; Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus.
1953-1955 – Haft in Bützow-Dreibergen.
1954 – Herabsetzung des Strafmaßes auf vier Jahre Zuchthaus.
1955 – Vorzeitige Haftentlassung.
1956/57 – Katechetin Kühlungsborn.
1957 – Heirat mit Pastor Ludwig Wegener; Umzug nach Groß Varchow, Kreis Waren.
1992 – Rehabilitierung.


Peter Moeller

* 14.03.1931 in Güstrow

 
Ein Schüler ruft zum Wahlboykott auf

„Zu einem überzeugenden Schuldgefühl konnte ich nicht kommen. Weder Gewalt gegen Personen oder Sachen, noch Verrat oder gar Spionage konnte man mir und allen anderen vorwerfen. Wir hatten nur eine Forderung offen ausgedrückt.”

(Peter Moeller über seine Empfindungen während des Güstrower Schauprozesses)

Peter Moeller, ein Neffe des mecklenburgischen Ministerpräsidenten Wilhelm Höcker (SED), fand als einer von mehreren Oberschülern der John-Brickman-Schule Güstrow den Weg in die Liberal-Demokratische Partei (LDP). Dort diskutierte man den Europa-Gedanken, dachte über die Zukunft Deutschlands und den Abzug der Besatzungsmächte nach.
Wie gefährlich solche Aktivitäten waren, wurde 1949 deutlich, als in Rostock Arno Esch und dessen Mitstreiter verhaftet wurden. Viele Jungliberale verließen daraufhin desillusioniert die DDR. Über einige dieser Flüchtlinge kam Moeller mit der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit” (KgU) in Kontakt, die von West-Berlin aus gegen die SED-Herrschaft agitierte. Zu Pfingsten 1950 fuhren er und einige gleichgesinnte Mitschüler in die Hauptstadt der DDR zum Deutschlandtreffen der Staatsjugendorganisation FDJ. Im Westteil Berlins besorgten sie sich KgU-Flugblätter.
Als sich einige Monate später andeutete, dass die Wahlen zum 15. Oktober mit einer Einheitsliste durchgeführt werden sollten, fuhren die Güstrower Jugendlichen erneut nach West-Berlin, um sich entsprechende Flugblätter zu verschaffen. In der Nacht vom 15. zum 16. September wurde die Gruppe – acht Oberschüler und LDP-Mitglieder – während der Verteilungsaktion verhaftet. Der Schauprozess im „Hotel Zachow” endete mit Zuchthausstrafen von insgesamt 87 Jahren. Peter Moeller erhielt 15 Jahre, von denen er sechs Jahre in Brandenburg-Görden verbrachte. Sein prominenter Onkel verleugnete ihn fortan.

1937-1950 – Schulbesuch in Güstrow.
1950 – Abitur an der John-Brinckman-Schule; Verhaftung während einer Flugblattverteilung; Schauprozess in Güstrow und Verurteilung nach Artikel 6 der Verfassung der DDR.
1950-1956 – Haft im Zuchthaus Brandenburg an der Havel; Entlassung nach Güstrow.
1956 – Flucht nach Berlin (West).
1957-1964 – Studium an der Freien Universität Berlin; Abschluss als Diplom-Chemiker.
1969 – Promotion zum Dr. rer.nat.
1969-1974 – Wissenschaftlicher Angestellter mit Lehrauftrag am Institut für Biotechnologie der Universität Stuttgart-Hohenheim.
1974 – Wechsel ins Lehrfach.
1974-1996 – Gymnasiallehrer für das Fach Chemie am Gymnasium in Filderstadt bei Stuttgart.
1992 – Rehabilitierung.
1996 – Eintritt in den Ruhestand.


Karl Sorge

 
Auf der Suche nach Wahrheit

„Wenn Menschen verschwinden, sagte ich mir, muss nach ihnen auch und vor allem von den Behörden gesucht werden. […] Wir ahnten, was demjenigen blühen könnte, der zu beharrlich Erkundigungen einzog, nämlich auch zu verschwinden. Aber solange ich mich offiziell an die Behörden hielt und sie um Auskunft ersuchte, meinte ich meiner […] Wachsamkeitspflicht nachzukommen.”

(Karl Sorge in seinen Erinnerungen)

Karl Sorge begann 1948 eine Lehre als Schiffsmaschinenschlosser auf der Neptunwerft, die damals den Status einer Sowjetischen Aktiengesellschaft besaß. Im ersten Lehrjahr wurde er von seinen Mitlehrlingen zum Sprecher gewählt. Kurz darauf war er als „Literaturobmann” der FDJ für den Vertrieb der Zeitung „Junge Welt” und die Werbung neuer Abonnenten verantwortlich. Im Frühjahr 1951 wurde er am Werkstor von einem Mann angesprochen, der sich als Vater eines verschwundenen Lehrlings vorstellte. Später lernte er weitere Eltern kennen, deren auf der Werft arbeitende Söhne ebenfalls nicht mehr nach Hause gekommen und vermutlich verhaftet worden waren. Sorge erklärte sich bereit, eigene Nachforschungen anzustellen, wissend, dass ihm daraus Nachteile erwachsen würden. Sorge besprach sich zunächst mit Freunden und wurde bei verschiedenen Organisationen und Behörden vorstellig. Er wandte sich an die Betriebsleitungen von FDJ und SED, den Rat der Stadt und das Einwohnermeldeamt. Schließlich begab er sich zur Polizei und sprach in der Militärkommandantur der Sowjetarmee vor. 1952 wurde er vor der Neptunwerft von deutschen Sicherheitsorganen verhaftet. Diese übergaben ihn den sowjetischen Behörden. Am Schweriner Demmlerplatz war er nächtelangen Verhören und körperlichen Übergriffen ausgesetzt. Karl Sorge wurde zusammen mit vier anderen Angeklagten verurteilt. Der Vorwurf gegen ihn lautete: Mitwisserschaft von einer Spionagegruppe. Das ursprüngliche Strafmaß, sieben Jahre Zwangsarbeit, wurde später auf 32 Jahre erhöht.

1939-1948 – Schulbesuch.
1943-1945 – Nach Luftangriff auf Rostock Einquartierung der Familie bei Verwandten in Ribnitz, Stralsund, Grimmen und Bad Doberan.
1945 – Rückkehr nach Rostock.
1948 – Realschulabschluss.
1948-1950 – Lehre als Schiffsmaschinenschlosser auf der Neptunwerft.
1952 – Verhaftung durch MfS-Angehörige; Übergabe an die sowjetische Geheimpolizei; Verurteilung durch das Sowjetische Militärtribunal Schwerin zu 7 Jahren Zwangsarbeit.
1952/53 – Nachträgliche Erhöhung der Strafe um 25 Jahre; Aufenthalt in verschiedenen Zwangsarbeitslagern in der UdSSR.
1953 – Entlassung in die DDR.
1954 – Angesichts erneut bevorstehender Verhaftung Flucht in die Bundesrepublik.
1954-1956 – Beschäftigung auf der Bremer Roland-Werft.
1956-1975 – Schiffsingenieur-Assistent bei der Bremer Reederei Ives & Arlt.
1975-1996 – Schulhausmeister in Bremen.
1996 – Verrentung, Umzug nach Lilienthal bei Bremen.