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+++ Die DDR und das Ende des “Prager Frühlings” 1968 – Proteste in Mecklenburg-Vorpommern +++

Selbst Jahrzehnte später erregt das Jahr 1968 noch die Gemüter. Es gilt als die Zeit einer globalen Revolte, die die Ideale einer ganzen Generation prägte. Die Jahreszahl symbolisiert vor allem einen kulturellen Bruch mit einer als verkrustet empfundenen Erwachsenwelt, der neue Werthaltungen und Lebensweisen hervorbrachte, die – abgesehen von offensichtlichen Irrtümern – überwiegend emanzipatorische Wirkungen entfalteten.
In Deutschland ruft die Erwähnung von ’68 unterschiedliche Empfindungen wach. Während die Generation der „Alt-68er“ im Westen an die Studentenbewegung, deren Galionsfigur Rudi Dutschke oder dessen revolutionäres Pathos denkt, erinnern sich viele in der DDR Geborene eher an das gewaltsame Ende ihrer Hoffnungen, die sie mit dem Reformexperiment des „Prager Frühlings“ verbanden.

Die DDR und der „Prager Frühling“

Als sich Mitte der 60er Jahre im Machtbereich der Sowjetunion die Anzeichen für eine Systemkrise mehrten, versuchten mehrere Ostblockstaaten von der unkritischen Übernahme des sowjetischen Modells loszukommen, um eigene Problemlösungen zu entwickeln.

In der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) strebte eine intellektuelle Parteielite um den Reform-kommunisten Alexander Dubcek nach der Einheit von Sozialismus und Demokratie. Die Machtstrukturen der Kommunistischen Partei (KPC) und des Staates sollten künftig getrennt, Marktmechanismen eingeführt und die Freiheit von Kultur und Wissenschaft sowie die Garantie der Menschenrechte gewährleistet werden. Die von Dubcek propagierte Idee eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ war nicht nur für die Völker der CSSR attraktiv. Im Nachbarland DDR brachten insbesondere Angehörige der jüngeren Generation dem so genannten „Prager Frühling“ große Sympathien entgegen.

Partei- und Staatschef Walter Ulbricht verfolgte einen anderen Kurs. Er führte ein „Neues Ökonomisches System“ ein, mit dem er zwar den Weg für mehr Flexibilität in der Wirtschaft ebnete, ohne jedoch die politisch-ideologische Basis des Staates anzutasten. Beleg dieser Haltung war die Verankerung der „führenden Rolle der Partei“ in der neuen DDR-Verfassung und der Ausbau des politischen Strafrechts.

Das Ende des „Prager Frühlings“

Während Moskau zunächst mit Gelassenheit auf die Wahl Dubceks zum Parteichef und dessen Reformkurs reagiert hatte, drängte Ost-Berlin darauf, mit allen Mitteln entgegenzusteuern. Die neue KPC-Linie wurde nicht nur als Abweichung vom Marxismus-Leninismus interpretiert, sondern als Angriff auf die eigenen Herrschaftsgrundlagen. Aus der SED-Perspektive bestand ideologische Ansteckungsgefahr, zumal nicht nur Intellektuelle und Studenten, sondern auch Arbeiter, Angestellte und Soldaten mit Leidenschaft das Experiment der südlichen Nachbarn verfolgten.

Im Frühsommer 1968 gingen die Sowjetunion und vier andere Warschauer-Pakt-Staaten – die DDR, Bulgarien, Polen und Ungarn – dazu über, sich offen in die inneren Angelegenheiten der CSSR einzumischen. Während sie den politischen Druck auf die Prager Führung verstärkten, bereiteten sie gleichzeitig die größte Militäroperation in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg vor.

In der Nacht vom 20. auf den 21. August marschierten 30 Divisionen mit 300.000 Soldaten in die Tschechoslowakei ein und brachten das gesamte Land unter ihre Kontrolle. Entgegen dem offiziellen Anschein war die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR nur indirekt am Überfall beteiligt. Ihre Soldaten standen nur im Hinterland entlang der Grenze in Bereitschaft.

Proteste in der DDR

Am Morgen danach verbreitete „Radio Prag“ eine Erklärung der tschechoslowakischen Führung. Diese bezeichnete den Einmarsch „nicht nur als einen Verstoß gegen alle Grundsätze in den Beziehungen sozialistischer Staaten, sondern auch als eine Missachtung der elementaren Normen des Völkerrechts“. Unter konspirativen Umständen bestätigten die ca. 1.000 Delegierten des Außerordentlichen Parteitages der KPC die festgenommenen Funktionäre in ihren Ämtern und bekannten sich ausdrücklich zum demokratischen Sozialismus. In ihrer illegal verbreiteten Erklärung hieß es: „Die sozialistische Tschechoslowakei wird sich weder mit einer militärischen Okkupationsverwaltung, noch mit einer Kollaborationsregierung […] abfinden.“
Mit der Niederschlagung der Reformbewegung schwanden zugleich die Hoffnungen vieler Ostdeutscher auf eine Reformierbarkeit des Staatssozialismus sowjetischer Prägung. DDR-weit erreichten die Unmutsbekundungen ein beträchtliches Ausmaß, drangen aber nur in Ausnahmefällen an die Öffentlichkeit.
Die Hauptrichtungen der Forderungen fasste das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wie folgt zusammen: „Aufwiegelung“ gegen die Intervention und Versuche zu einer Kampagne für deren Rückgängigmachung; „Propagierung und Verherrlichung der konterrevolutionären Umtriebe in der CSSR […] als Beispiel zu erstrebender Veränderungen in der DDR“; „Hetze“ gegen die SED-Führung; Forderungen nach Abzug der sowjetischen Truppen sowie die Solidarisierung „mit den konterrevolutionären Kräften in der CSSR“. Ein Bericht des MfS vom 20. November 1968 listet 2.129 derartige „feindliche Handlungen“ auf, darunter das „Anschmieren von Hetzlosungen“, die „Verbreitung selbstgefertigter Hetzschriften“, „anonyme Hetze“ und organisierte Sympathiebekundungen. Dreiviertel der 1.189 wegen erwiesener Sympathie für die CSSR strafrechtlich belangten Personen waren unter 30 Jahre alt. Territoriale Schwerpunkte waren neben der Hauptstadt Berlin die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Südbezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig. Das wahre Ausmaß der Proteste im eher „ruhigen“ Norden lässt sich z.Zt. nur für den Bezirk Rostock beziffern. Ein Bericht der Bezirksverwaltung des MfS vom 11. September spricht von 302 Fällen „mündlicher“ und 60 Fällen „schriftlicher Hetze“, fünf „Gewalttätigkeiten“ sowie 17 Fällen „passiven Widerstandes“.

Anhand von sechs Fallbeispielen aus dem Norden der DDR soll gezeigt werden, dass das Jahr 1968 auch hier im Zeichen vielfältiger Proteste stand. Weder das Informations- und Meinungsmonopol der SED noch das flächendeckende Überwachungs- und Repressionssystem vermochten zu verhindern, dass Einzelne für eine demokratische Alternative eintraten.

+++ 5. Januar, Prag. A. Dubcek wird zum 1. Sekretär des ZK der KPC gewählt
+++ 23. März, Dresden. Auf einer Wirtschaftskonferenz von sechs Warschauer Paktstaaten kritisieren der sowjetische Partei- und Staatschef L. Breshnew und seine Partner die Liberalisierung in der CSSR

+++ 21. August. Stellmacherei Dangeleit Gadebusch +++

Otto Dangeleit

„So wie vor 30 Jahren, so marschieren jetzt wieder deutsche Truppen in die CSSR ein. Die Deutschen haben damals die Freiheit der Tschechen unterdrückt und tun das jetzt wieder. Wenn die Russen was mit den Tschechen abzumachen haben, dann sollen sie das allein tun uns nicht uns Deutsche damit hineinziehen. Ich bin dagegen, dass Angehörige der NVA in der CSSR mit eingesetzt sind.“

Äußerung Otto Dangeleits in einem Gespräch mit einem vermeintlichen Kunden, 1968 ///Zit. nach Anklageschrift vom 23.09.1968, S. 23 (KOPIE), in: Privatarchiv Otto Dangeleit, Gadebusch.

Im Rahmen von Instandsetzungsarbeiten an der örtlichen Berufsschule wird eine Schaufel benötigt. Daher wendet sich der Sportlehrer E. an den als hilfsbereit bekannten Stellmacher Otto Dangeleit (44). Wie erwartet verleiht er ihm das benötigte Gerät. Kurz vor dem Verlassen der Werkstatt erkundigt sich E. bei Dangeleit, ob er schon die Nachricht vom Truppeneinmarsch in die Tschechoslowakei gehört habe. Der Befragte bejaht. Er ist sichtlich aufgebracht: „Das hatten wir schon vor 30 Jahren einmal unter Hitler. Jetzt marschieren wieder Deutsche in diese Gebiete ein. Walter Ulbricht sollte lieber die Finger davon lassen und sich […] raushalten.“

Kurz darauf findet im Direktorenzimmer der Berufsschule eine vertrauliche Unterredung zwischen E. und einem Mitarbeiter der Staatssicherheit statt. Er berichtet ihm von dem Wortwechsel in der Werkstatt. Der Sportlehrer ist nicht der einzige, der den beliebten Handwerker denunziert. Auch der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei belastet ihn schwer. In einer privaten Unterredung soll Dangeleit die Meinung geäußert haben, man solle die Menschen in der CSSR in Ruhe lassen. Das ganze Volk stehe hinter Dubcek, der nur Wohlstand und Freiheit wolle. Jetzt werde es durch eine fremde Besatzung unterdrückt.

Aus Sicht der Sicherheitsorgane gilt Dangeleit bis zu diesem Zeitpunkt als unbeschriebenes Blatt. So war dieser weder im Zusammenhang mit dem Arbeiteraufstand 1953, den Unruhen in Ungarn 1956 oder dem Mauerbau 1961 aufgefallen. Am 24. September 1968 eröffnet die Kreisdienststelle für Staatssicherheit den Operativen Vorgang „Stellmacher“. Auf Dangeleit werden drei inoffizielle Mitarbeiter angesetzt, um ihm weitere belastende Aussagen zu entlocken. Da die Spitzel zum Kundenkreis des Handwerkers zählen, ist dieser völlig arglos. Freimütig nennt er die offizielle Begründung, wonach „100 tschechische Arbeiter“ im Namen eines 18-Milllionen-Volkes um „brüderliche Hilfe“ gebeten hätten, als „Quatsch“. Anderenfalls könne auch er binnen einer Stunde 100 Unterschriften beschaffen, um die Amerikaner zu bitten, die DDR zu befreien.
Aus Sicht der Staatssicherheit reichen derartige Äußerungen aus, um den kriegsversehrten Familienvater festzunehmen. Am 30. August wird er verhaftet und später zusammen mit zwei ihm unbekannten Männern vor das Bezirksgericht Schwerin gestellt. Die Kammer verurteilt Otto Dangeleit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten wegen „mehrfacher Staatsverleumdung“.

1923
Geboren in Elbingskolonie (Ostpreußen).

1930-1938
Volksschule, anschließend Landarbeiter.

1939-1942
Stellmacherlehre, Abschluss der Meisterprüfung.

1942-1944
Als Wehrmachtssoldat an der Ostfront.

1943
Verlust des linken Fußes.

1945/46
Englische Kriegsgefangenschaft.

1946
Umzug der Familie nach Gadebusch; Eintritt in die SPD, Verweige-rung der Übernahme in die SED.

1946-1951
Beschäftigung in verschiedenen Stellmacherbetrieben.

Ab 1951
Selbstständiger Stellmacher.

1968
Inhaftierung und Verurteilung, anschließend Überstellung in die Strafvollzugsanstalt Cottbus.

1969
Vorzeitige Haftentlassung nach Gadebusch.

Ab 1988
Erreichung des Rentenalters.

1990
Verfassung eines Memorandums an die DDR-Regierung mit der Forderung auf Rehabilitierung.

1992
Rehabilitierung durch das Bezirksgericht Schwerin.

+++ 5. April, Prag. Die KPC verabschiedet das Aktionsprogramm „Der Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus“.
+++ 8. Mai, Moskau. Treffen von fünf „Bruderparteien“ unter Ausschluss der KPC. Es wird ein Militärmanöver auf dem Boden der CSSR vereinbart.

+++ 21. August. Landtechnisches Instandsetzungswerk Demmi

Günter Baumann

„Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, wir hätten viel vom ‚Prager Frühling‘ mitbekommen. […] Erst als die Sache mit dem Einmarsch passiert ist und man uns vehement unter Druck gesetzt hat und gesagt wurde, hier müsst ihr unterschreiben, dann haben wir gesagt: Das unterschreiben wir nie im Leben!“

Günter Baumann über die damalige Haltung seiner Kollegen, 2008

Auf einer improvisierten Abteilungsversammlung informiert ein Vertreter der Betriebsparteileitung die Kollegen über die politischen Ereignisse. Entsprechend dem Tenor einer wenige Stunden zuvor verbreiteten Erklärung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS wird der Einmarsch in die CSSR als „Hilfeleistung für das tschechoslowakische Brudervolk“ gerechtfertigt. „Niemals und niemanden“ werde „es gestattet sein, auch nur ein Glied aus der Gemeinschaft der sozialistischen Staaten herauszubrechen“. Ziel dieser „Aussprache“ ist es, die Werktätigen zur Unterzeichnung einer Zustimmungserklärung zu bewegen.

Die überwiegende Mehrheit – einschließlich der SED-Mitglieder – lehnt dies ab. Der Motorenschlosser Günter Baumann (30) kritisiert die Beteiligung deutscher Soldaten an der Aktion. Auf einer erst kürzlich unternommenen Rundreise in das Nachbarland habe er sich davon überzeugen können, wie sehr die Erinnerung an die deutschen Kriegsverbrechen noch präsent ist. Im Anschluss an einen Besuch der Gedenkstätte Lidice, einem kleinen Ort, den die SS 1942 dem Erdboden gleichgemacht hatte, habe die tschechische Reisebegleiterin der DDR-Reisegruppe mit auf den Weg gegeben, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.

Nach dem gescheiterten Versuch der Betriebsparteileitung, die Belegschaft zur Unterzeichnung der Erklärung zu bewegen, erhöht diese den Druck. Um die Front der Gegner aufzuweichen, werden zunächst die SED-Genossen „bearbeitet“, sich der offiziellen Linie anzuschließen. Mit den Parteilosen werden tribunalartige Einzelgespräche geführt, bis auch diese ihren Widerstand aufgeben. Baumann bleibt als einziger bei seiner ablehnenden Haltung. Selbst mehrere Agitatorentrupps aus der Hauptstadt, denen vorgeblich Mitglieder des FDJ-Zentralrates und des SED-Zentralkomitees angehören, vermögen den Schlosser nicht umzustimmen.

Eines Abends erhält seine Familie unerwarteten Besuch. Zwei Männer in Zivil konfrontieren den zweifachen Familienvater mit dem Vorwurf der Sabotage. Sie fordern ihn auf, ihn „auf eine halbe Stunde“ zum Kreisgericht zu begleiten. Erst am nächsten Morgen gelangt er wieder auf freien Fuß. Als sich der Beschuldigte während des Verhörs auf die in der DDR-Verfassung garantierte Meinungsfreiheit beruft, muss er sich entwürdigenden Intelligenztests unterziehen.

Am 30. Oktober 1968 verkündet das Kreisgericht Demmin das Urteil. Der Angeklagte Baumann erhält wegen mehrfacher „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ eine Bewährungsstrafe von drei Jahren, die im Falle der Nichtbewährung in eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und zwei Monaten umgewandelt werden kann.

1938
Geboren in Demmin als Sohn eines Bäckermeisters.

1944-1953
Besuch der Grundschule Demmin.

1953-1956
Lehre zum Hochöfner in Stalinstadt.

1957-1959
Freiwilliger Wehrdienst in Storkow.

1959
Freiheitsstrafe wegen Meuterei in der NVA; Entlassung nach acht Monaten, Aussetzung der Reststrafe auf Bewährung.

1959-1961
Stahlwerker in Stalinstadt (ab 1961 Eisenhüttenstadt).

1960
Heirat; Umzug nach Demmin.

1961-1979
Motorenschlosser im LIW Demmin.

1968
Bewährungsstrafe wegen mehrfacher Staatsverleumdung.

1973
Erwerb der Hochschulreife.

1979-1984
Meister in der Motorenproduktion; Fernstudium an der Ingenieur-hochschule Bautzen; anschließend Leiter der Abteilung Messwesen.

1990-1992
Marketingleiter der Maschinenbau- und Motoren GmbH (ehem. LIW).

1992-1995
Tätigkeiten in verschiedenen Handelsfirmen für Versorgungstechnik.

1998
Erreichung des Rentenalters.

+++ 4. Mai, Moskau. Dubcek weist den Vorwurf zurück, wonach sich in seinem Land die Konterrevolution entfalte
+++ 14. Juli, Warschau. Die Parteiführungen der Sowjetunion, Polens, Bulgariens, Ungarns und der DDR verfassen einen Brief an das ZK der KPC. Darin missbilligen sie den Kurs der Partei. Man werde nicht zulassen, das der Imperialismus eine Bresche in das sozialistische System schlage.

+++ 10. September. Postamt Greifswald

Karl-Heinz Borchardt

„Ich bin 17 Jahre alt, also in diesem Staat aufgewachsen und [habe] die ideologische Drillanstalt bis jetzt gut gemeistert. Aber glauben Sie nicht, daß das ein Vergnügen ist, ständig was anderes zu sagen, als man denkt. Ich habe aber nicht die Absicht, das im weiteren Leben so weiter zu machen. […] Goethe sagte in seinem ‚Götz von Berlichingen‘, wir können sterben, mit uns darf nur nicht die Freiheit sterben.“

Karl-Heinz Borchardt in einem anonymen Brief an den BBC, 5. März 1970 /// BStU-Außen-stelle Rostock, AU 1536/71, Bd. II, Bl. 120.

Ein Briefumschlag ohne Absender, adressiert an einen Rolf Degener in West-Berlin, erregt die Aufmerksamkeit der Abteilung M der Staatssicherheit. Wie den Postkontrolleuren bekannt ist, handelt es sich bei der Anschrift um eine Deckadresse des deutschsprachigen Dienstes des Londoner Senders BBC. In dem Papier stellt sich der Verfasser als Oberschüler vor. Er sei ein Hörer der Sendereihe „Briefe ohne Unterschriften“, die ihm gefalle, weil sie ein Sprachrohr für DDR-Bürger sei, deren Meinungen in der eigenen Presse niemals gedruckt würden. Der Schreiber berichtet über ein aktuell-politisches Gespräch im Unterricht, das nach den Ferien stattgefunden hatte. Dabei sei es um die Ereignisse in der Tschechoslowakei gegangen. Obwohl er die staatskonforme Meinung der Mehrheit der Klasse nicht geteilt habe, hätte er geschwiegen, weil er befürchtet habe, von der Schule entfernt zu werden. Er vertrete die Ansicht, der Westen sei nicht scharf genug gegen die Intervention eingeschritten.

Bei dem schreibenden Schüler handelt es sich um Karl-Heinz Borchardt (16), der die Erweiterte Oberschule in Greifswald besucht. Nach dem Abitur möchte er Jura studieren, um Anwalt zu werden. Nach außen hin verhält er sich angepasst, übernimmt Funktionen in der FDJ und erwirbt das „Abzeichen für gutes Wissen“. Ihn interessieren die Literatur der Aufklärung, Beat-Musik und Politik. Seine Meinung bildet er sich anhand westlicher Rundfunksendungen, deren Inhalte er im Freundeskreis diskutiert.

Dem Schreiben vom September 1968 folgen in großen zeitlichen Abständen zwei weitere, die ebenfalls vom MfS abgefangen werden. Darin thematisiert der Jugendliche erneut die Angst der Menschen, frei ihren Willen zu bekunden. Er bewundere jene, die während des Nationalsozialismus gegen das Regime gekämpft hätten. Wenn es gelungen wäre, Hitler zu stürzen, wäre das Leben von Millionen gerettet worden. Auch auf die Gegenwart bezogen, könne Gewalt ein Weg sein, um die Verhältnisse zu ändern.

Im Ergebnis von Schriftvergleichen, die die Staatssicherheit anstellt, gelingt es ihr nach dreijähriger Suche, Borchardts Identität zu ermitteln. Am 31. August 1970 wird der jetzt 18jährige in der elterlichen Wohnung festgenommen.

Während der U-Haft in Rostock wird Borchardt in einem psychologisch-psychiatrischen Gutachten eine „überdurchschnittliche Intelligenz“ sowie eine ausgeprägte „Anpassungs- und Steuerungsfähigkeit“ bescheinigt. Am 29. März 1971 wird er wegen „mehrfacher versuchter staatsfeindlicher Hetze mit Hilfe von Publikationsorganen, die einen Kampf gegen die Deutsche Demokratische Republik führen“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

1952
Geboren in Greifswald als Sohn eines Buchhalters.

1959
Einschulung am Wohnort Neuenkirchen.

1961
Umzug der Familie nach Greifswald.

1961-1967
Besuch der Käthe-Kollwitz-Oberschule Greifswald.

1967
Wechsel auf die Erweiterte Oberschule.

1970
Festnahme durch das MfS.

1971/72
Verurteilung; Jugendstrafvollzugsanstalt Dessau.

1972-1976
Hilfsmechaniker im VEB Nachrichtenelektronik Greifswald; nebenbei Besuch der Volkshochschule; Abitur.

1976/77
Wehrdienst.

1977-1981
Studium der Germanistik und Geschichte (Pädagogik) an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald (EMAU).

1981-1987
Forschungsstudium; Dissertation; danach wiss. Assistent an der Sektion für Germanistik, Kunst- und Musikwissenschaft.

1987-1990
Mitarbeiter der Kulturabteilung der EMAU.

Seit 1990
Wiss. Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie.

1996
Rehabilitierung durch das Landgericht Rostock.

+++ 27. Juni, Prag. Zur Unterstützung der Reformen veröffentlicht der Schriftstellerverband das „Manifest der 2000 Worte“
+++ 29. Juli, Cierna nad Tisou. Treffen Breshnew – Dubcek. Der Gast droht mit einer Militärintervention.

+++ 11. September. Rostock, Universität Rostock +++

Jürgen Janetzko

„Die Erziehung und Ausbildung sozialistischer Lehrerpersönlichkeiten erfordert von allen Angehörigen des Lehrkörpers politische Klarheit, einen festen Klassenstandpunkt und persönliche Konsequenz. Ein Lehrer im Hochschuldienst muß gerade in der gegenwärtigen Zeit zugespitzter Klas-senauseinandersetzungen […] zur offensiven Klärung politisch-ideologischer Grundsatzfragen beitragen. Diese Anforderungen erfüllt Kollege Janetzko nicht. […] Deshalb sind nunmehr alle Kollegen […] der Meinung, daß Kollege Janetzko einen Arbeitsplatz wählen sollte, wo die parteiliche Erziehung junger Bürger nicht ein vorrangiges Anliegen ist.“

Aus der Abschlussbeurteilung des Instituts für Slawistik, 17. Februar 1969 /// Privatarchiv Jürgen Janetzko, Nienhagen.

Der einzige Tagesordnungspunkt des Dekanskollegiums der Philosophischen Fakultät lautet „Antrag des Instituts für Slawistik auf Beurlaubung von Koll. Janetzko aus der Lehrtätigkeit.“ Jürgen Janetzko (38), von dem hier die Rede ist, ist leitender Lektor für russische Sprache. Nachdem er sich bereits gegenüber der Parteigruppen- und Gewerkschaftsleitung seines Instituts hat rechtfertigen müssen, soll er in diesem Kreise aufs Neue erklären, warum er angesichts „der drohenden Konterrevolution in der CSSR“ eine „unklare politisch-ideologische Haltung“ einnimmt. Anlass des Vorwurfes ist seine Weigerung, eine Stellungnahme zu unterzeichnen, die die Maßnahmen der Warschauer Paktstaaten begrüßt.

Als Lektor ist Janetzko dafür verantwortlich, angehenden Russischlehrern Sprachunterricht zu erteilen. Nebenbei arbeitet er an seiner Dissertation. Bereits Anfang des Jahrzehnts hatte der bekennende Sozialist eine wachsende Distanz zur SED verspürt, der er selbst angehörte. Beeindruckt von den kritischen Beiträgen westlicher Rundfunksender, die sich offen mit Missständen in der Bundesrepublik auseinandersetzten, vermisste er die fehlende Pressefreiheit im eigenen Land. Mit der offiziellen Begründung, sich den Anforderungen an ein Parteimitglied nicht gewachsen zu fühlen, hatte er 1962 die Streichung seiner Mitgliedschaft beantragt. Da das Parteistatut einen solchen Schritt nicht vorsah, wurde der Slawist aus der SED ausgeschlossen.

Mit großer Sympathie verfolgte Janetzko die Entwicklungen in Prag. Da er der tschechischen Sprache mächtig war, konnte er sich sogar aus erster Hand informieren. Aus der Parteizeitung „Rudé Právo“, die er regelmäßig von einem Kiosk auf dem Universitätsplatz bezog, erfuhr er von den Reformbemühungen der KPC.
Als die Institutsleitung im Frühjahr 1968 erstmals von ihm verlangte, eine kollektive Erklärung zur Verurteilung eines „republikflüchtigen“ Studenten zu unterzeichnen, verweigerte er dies mit der Bemerkung, man müssen die Verhältnisse in der DDR so gestalten, dass die Bürger freiwillig blieben. Kurz darauf versagte er der Einführung der neuen DDR-Verfassung ebenfalls die geforderte Zustimmung.

Janetzkos neuerliche Weigerung, dem Einmarsch in die CSSR zuzustimmen, zieht ein Unterrichtsverbot nach sich. Am 20. Januar 1969 zitiert der Universitätsrektor Prof. Günther Heidorn den vom Lehrbetrieb „beurlaubten“ Lektor zu sich. Er stellt ihn vor die Wahl, entweder seine Ansicht zu revidieren oder die Universität zu verlassen. Janetzko bleibt konsequent. Um einer Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses durch Kündigung vorzukommen, bittet er selbst um den Abschluss eines Aufhebungsvertrages.

1930
Geboren in Ortelsburg (Ostpreußen) als Sohn eines Finanzbeamten.

1937-1944
Volksschule; anschl. Gymnasium.

1944/45
Flucht nach Hinterpommern; Verschleppung nach Turkmenien (SU).

1946
Rückkehr nach Deutschland. Niederlassung in Vietz bei Hagenow. Zusammenführung der Familie. Besuch des Gymnasiums.

1947/48
Institut für Lehrerbildung in Schwerin; anschl. Lehrer in Sponholz.

1948-1950
Lehrer an der Fritz-Reuter-Oberschule in Neubrandenburg.

1950-1960
Qualifizierungslehrgang am Institut für Lehrerbildung in Schwerin; anschl. Lehrer an der Erweiterten Goethe-Oberschule Schwerin.

1956/57
Sprachstudium an der Philologischen Fakultät in Leningrad.

1960
Abschluss eines Fernstudiums an der Päd. Hochschule Potsdam.

1960-1969
Lektor am Institut für Slawistik der Universität Rostock.

1969-1991
Dolmetscher auf der Warnow-Werft.

1989/90
Als Mitglied des „Neuen Forums“ beteiligt an der Stasi-Auflösung.

1991-1995
Rehabilitierung; anschl. Lektor am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Rostock.

1995
Erreichung des Rentenalters.

+++ 19. Juli, Prag. Die KPC weist die Vorwürfe zurück. Es gebe „keine realen Gründe, die Behauptungen rechtfertigen würden, in denen unsere gegenwärtige Situation als konterrevolutionär bezeichnet wird.“
+++ 3. August, Bratislava. Die „Warschauer Fünf“ versuchen ihre Partner in der CSSR zu veranlassen, eine Kurskorrektur zu vollziehen.

+++ 11. September. NVA-Objekt Rövershagen +++

Heiko Lietz

„Wir haben die Entwicklung in Ihrem Land seit dem Januar 1968 mit Interesse und großer Sympathie verfolgt. Denn was Sie anstrebten, konnte dem Sozialismus nur nützlich sein. […] In der Hoffnung, daß der Sozialismus in seiner wahren Tiefe und Größe doch das Bild der Zukunft prägen wird, grüßen wir das ganze tschechoslowakische Volk.“

Aus dem Schreiben an den CSSR-Botschafter, 1968. /// Privatarchiv Heiko Lietz, Schwerin.

Nachdem alle Dienststellen der Nationalen Volksarmee zeitweilig in Alarmbereitschaft versetzt worden sind, herrscht dort helle Aufregung. Auf der Baustelle eines Schießplatzes diskutieren Angehörige eines Pionierbataillons darüber, wie sie ihrer Empörung Ausdruck verleihen können. Einer der Wortführer ist der Bausoldat Heiko Lietz (24). Bereits einen Tag nach der Invasion hatte er eine Eingabe an den DDR-Staatsrat verfasst, in der er sich davon distanzierte. Weil er nun zusammen mit seinen Kameraden ein Zeichen gegen den Einmarsch setzen möchte, ermuntert er sie, ein Solidaritätsschreiben an das tschechoslowakische Volk zu verfassen.

Dass der angehende Theologe überhaupt zur NVA gezogen wurde, war einem Versäumnis der mecklenburgischen Landeskirche geschuldet. Üblicherweise führten deren Freistellungsanträge dazu, kirchlichen Mitarbeitern den Wehrdienst zu ersparen. Weil in seinem Fall kein entsprechender Antrag vorlag, erhielt er im Oktober 1967 einen Einberufungsbefehl. Zunächst entschied er sich dafür, den Dienst aus Gewissengründen zu verweigern.

Während der Untersuchungshaft erklärte sich Lietz zur Ableistung des Wehrdienstes bereit, allerdings ohne Waffe. Angekommen im Pionierbataillon Drögeheide bei Torgelow wurde der aufmüpfige Bausoldat schon bald strafversetzt.

Als politisch denkender und handelnder Mensch verstand es Heiko Lietz, sich trotz eingeschränkter Möglichkeiten über die internationale Lage zu informieren. Als Abonnent der rumänischen Tageszeitung „Neuer Weg“ hatte er von Anfang an die Bemühungen der tschechoslowakischen Reformer um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mitverfolgen können. Das deutschsprachige Blatt enthielt Berichte über den „Prager Frühling“, die man in der DDR-Presse vergeblich suchte. Als ihm mit Beginn der Okkupation die Zeitung nicht mehr zugestellt und eine strikte Nachrichten-, Ausgangs- und Urlaubssperre verhängt wurde, erschloss sich Lietz andere Informationskanäle. Fortan bezogen er und seine Kameraden ihre Informationen mit Hilfe eines Kofferradios. Während des Empfangs westlicher Nachrichtensendungen wurden an allen Seiten seines Acht-Mann-Zeltes Posten aufgestellt, die vor sich nähernden Offizieren warnten.

Unter ähnlich konspirativen Bedingungen wird das gemeinsame Schreiben an den CSSR-Botschafter in der DDR aufgesetzt. Einer der Soldaten schmuggelt es aus der Dienststelle heraus . Ob der Brief sein Ziel tatsächlich erreicht, bleibt unklar. Obwohl Vorfälle wie diese in anderen NVA-Einheiten empfindliche Strafen nach sich ziehen, bleiben Konsequenzen aus.

1943
Geboren in Schwerin als Sohn eines Pastors.

1957-1961
Besuch der Oberschule in Rostock; Abitur.

1961-1966
Theologiestudium an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock.

1966/67
Mitarbeiter der Geschäftsstelle der Ev. Studentengemeinden in Berlin.

1967-1969
U-Haft wegen Wehrdiensttotalverweigerung; Bausoldat.

1969-1980
Vikariat in Rostock; anschl. Gemeindepastor in Güstrow und nebenamtlicher Studentenpfarrer.

1979-1989
Mitarbeit in der unabhängigen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in Güstrow, Kessin und Rostock.

1981-1988
Technischer Mitarbeiter der Rostocker Kunsthalle; Hauswirtschaftspfleger und Essenträger bei der Volkssolidarität.

1988-1990
Mitarbeiter der Kirchengemeinde Badendiek bei Güstrow.

1989/90
Mitglied des Republiksprecherrates des „Neuen Forums“; Vertreter am Zentralen Runden Tisch; Abgeordneter des Güstrower Kreistages; Spitzenkandidat bei der Landtagswahl; 1. Landessprecher.

1992/93
Mitglied des Landes- u. Bundessprecherrates der Partei „Bündnis 90“; Sprecher des Landesvorstandes Mecklenburg-Vorpommern von Bündnis 90 / Die Grünen.

1997
Austritt aus der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.

+++ 22. Juli, Ost-Berlin. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckt einen Beitrag der sowjetischen „Prawda“ ab. Darin wird die Stellungnahme der KPC-Führung massiv kritisiert.
+++ 20. August, CSSR-Staatsgrenze. Truppeneinmarsch.

+++ 5. Oktober. Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald +++

Michael Succow

„Ich war innerlich frei. […] Ich war nicht gebunden, hat-te ein Rechtsgefühl und wer es wissen wollte, dem habe ich meine Meinung gesagt. Ich war angetreten, den Sozialis-mus, den ich kritisch begleitete, zu reformieren.“

Michael Succow über seine damalige Haltung, 2008

In einer Analyse der „politisch-ideologischen Situation“ bezieht die Universitätsparteileitung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität intern Stellung zu den Reaktionen der Wissenschaftler und Studenten auf die aktuell-politische Lage. Insgesamt hätten die „Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den […] Ereignissen […] in der CSSR, zu einer Festigung unserer politischen Positionen innerhalb der Universitätsintelligenz […] geführt“. Es seien aber auch „eine Reihe von Problemen, spezifischen Niveau-unterschieden in den einzelnen Bereichen der Universität und ideologischen Hemmnissen“ sichtbar geworden. So habe es in der Abteilung Botanik „erhebliche Zweifel an der Notwendigkeit und Richtigkeit“ des Einmarsches gegeben.

Von den Botanikern hätten vier parteilose wissenschaftliche Nachwuchskräfte – drei junge Männer und eine Frau, – ihre Unterschrift unter die vorgefertigte Zustimmungserklärung verweigert.

Zu den „Abweichlern“ zählt Michael Succow (27). Der aus einer aufgeklärten „Großbauernfamilie“ stammende in sich gekehrte, die Natur liebende junge Mann teilt die Vision eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Der für ihn zuständige Abteilungsleiter, ein CDU-Mitglied, versucht, ihm unter vier Augen zum Einlenken zu bewegen. Seinem Lieblingsassistenten „Mischa“ gibt er den Rat, die wissenschaftliche Karriere nicht wegen eines von der SED geforderten „Lippenbekenntnisses“ aufs Spiel setzen. Da ein System wie das DDR nicht ewig bestehen könnte, habe der Einzelne die „Pflicht, zu überwintern“. Stärker als dieses Argument wog für Succow dagegen eine auf die Nationalsozialisten gemünzte Formel seines Vaters „Wer sich mit denen einlässt, kommt mit denen um.“

Als weder Michael Succow noch seine drei widerstrebenden parteilosen Kollegen bereit sind, die Erklärung zu unterzeichnen, lässt man sie scheinbar in Ruhe. Sie werden zwar nicht gemaßregelt, aber nach und nach ihrer wissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Nacheinander verlässt einer nach dem anderen von ihnen „freiwillig“ die Universität. Succow selbst nötigen gleich zwei Gründe zu diesem Schritt. Zum einen soll der ausgewiesene Moor-Spezialist seinen Forschungszweig wechseln und sich fortan der Mikrobiologie widmen. Zum anderen verweigern die Behörden seiner vierköpfigen Familie seit langem eine menschenwürdige Unterkunft. Am 15. April 1969 stimmt er der vorzeitigen Aufhebung seines Arbeitsvertrages zu, um künftig in einem Meliorationskombinat zu arbeiten.

1941
Geboren als Sohn eines Landwirts in Lüdersdorf (Brandenburg).

1947-1960
Grundschule Lüdersdorf; EOS Bad Freienwalde.

1960-1965
Studium an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.

1965-1969
Heirat; Wiss. Assistent an der Abteilung Allgemeine Botanik.

1969-1973
Standorterkunder im Meliorationskombinat Frankfurt/Oder.

1970/1981
Promotion; Habilitation.

1974-1990
Akademie der Landwirtschaftswiss. der DDR in Eberswalde; 1984 Erwerb der Lehrbefähigung an der TU Dresden.

1987-1990
Professor an der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften.

1990/91
Stellv. Umweltminister der DDR; Gastprofessur an der TU Berlin; Lehrstuhlvertretung für das Fach Ökologie in Greifswald.

1990-2003
Vizepräsident des Naturschutzbundes Deutschland.

1992-2006
Gründungsdekan Fachbereich Landschaftsnutzung FH Eberswalde; Ordinarius für Geobotanik und Landschaftsökologie in Greifswald; Mitarbeit in Sachverständigengremien der Bundes- und Landesregierung für Umweltfragen.

1997
Verleihung des Alternativen Nobelpreises.

2006
Ruhestand, Fortsetzung des Engagements im Rahmen der „Michael Succow Stiftung zum Schutz der Natur“.

+++ 12. August, Karlovy Vary. Eine von W. Ulbricht geleitete DDR-Delegation besucht die CSSR zur Erhöhung des Drucks auf die Prager Führung.
+++ 21. August, Moskau. Die Nachrichtenagentur TASS teilt mit, Persönlichkeiten der Partei und des Staates der CSSR

+++ Das Ende des “Prager Frühling” – Meldungen aus dem Norden der DDR +++

„Im Bezirk ist eine ruhige Atmosphäre. Es häufen sich aus allen Schichten der Bevölkerung, von Belegschaften der Betriebe, sozialistischen Kollektiven und Brigaden die Zustimmungserklärungen für die Maßnahmen unserer Par-tei und der anderen Warschauer Vertragsstaaten.“

>>> Zit. aus: Fernschreiben Bernhard Quandts, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin, an das SED-Zentralkomitee vom 21. August 2008 /// Landeshauptarchiv Schwerin, 10.34-3/2036.

Nachdem der Klassengegner nach den eingeleiteten Maßnahmen verstärkt mit seiner Hetzkampagne und Verbreitungen von Lügen über die Lage in der CSSR in Erscheinung trat, kam es auch in unserem Bezirk zu Unklarheiten und feindlichen Auffassungen in einzelnen Bevölkerungsschichten sowie bei einigen Genossen und Grundorganisationen.2

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Der Kollege Z. aus dem VEB Getreidewirtschaft Bützow vertritt die Meinung, daß die militärische Hilfe nicht durch das Volk in der CSSR angefordert wurde, sondern daß es sich hierbei um die Durchsetzung des Willens der SU handelt. Durch den Einmarsch […] können wir in Verruf kommen und als Faschisten bezeichnet werden, weil uns die CSSR nicht gerufen hat.1

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Vereinzelt gibt es solche Auffassungen, wie es die Kollegen des N., VEB Betonwerk Ventschow: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Sozialismus durch Panzer aufrechterhalten werden soll.“1

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Der Dekan der Theologischen Fakultät [der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald] Prof. Nagel unterzeichnete die Senatserklärung nicht und erklärte, dass dies der Haltung aller Angehörigen des Rates der Theologischen Fakultät entspräche. Er versicherte, dass auch an seiner Fakultät die Diskussion geführt werde, die allerdings nicht auf eine Zustimmung zu den Maßnahmen der sozialistischen Länder hinarbeite.5

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Es mehren sich sowjetfeindliche und direkt gehässige Äußerungen gegen die Sowjetunion. Frau S. und M. aus dem Matratzenwerk Warin äußerten: „Die Russen sollen erst im eigenen Lande Ordnung schaffen, bevor sie sich in die Angelegenheiten der CSSR einmischen.“1

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Sechs Beschäftigte […] des Rates des Kreises Grevesmühlen, darunter drei Mitglieder der SED, empfingen während der Arbeitszeit gemeinsam die Nachrichten westlicher Sender. Einer der Beschäftigten äußerte anschließend, daß er nicht mehr für Vietnam spenden werde, da die Hilfsmaßnahmen mit der Aggression des US-Imperialismus gegen das vietnamesische Volk gleichgesetzt werden müßten.5

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Der Genosse R., Parteisekretär der LPG Goldenbow, Kreis Parchim, äußert: „Es ist eine Schweinerei, daß wir als DDR mit einbezogen werden, dass wir denen zu Hilfe gegangen sind.“1

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Der Genosse F., Viehpfleger in der LPG Lutheran, Kreis Lübz, war mit dem Einsatz der NVA nicht einverstanden und vertrat folgende Auffassung: „Die deutschen Truppen sind schon einmal 1939 in der CSSR einmarschiert.“2

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Ein Teil der [Greifswalder] Studenten äußerte in zunehmendem Maße abwartende und skeptische Auffassungen. […] Das Westsenderhören nahm erschreckend zu. Ein Teil der Studenten sprach darüber in aller Offenheit. Genossen Studenten und aktive FDJ-ler, die voll hinter den Maßnahmen standen und stehen, hatten Schwierigkeiten in der Argumentation.6

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Neben einer Reihe von negativen Äußerungen haben 10 Jugendliche […] des VEB Elbewerft Boizenburg eine Resolution verfasst, in der sie zum Ausdruck brachten, dass sie nicht mit dem Einsatz von Truppen der Warschauer Vertragsstaaten […] einverstanden sind.2

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Unter einem Teil der Jugendlichen, vor allem solcher, die nicht in der FDJ organisiert sind […], sind verhältnismäßig stark solche Auffassungen vertreten, dass die Jugend in der CSSR deshalb hinter Dubcek steht, weil er sie frei nach westlichen Gesichtspunkten leben läßt. So etwas wünschen sie sich in der DDR auch.2

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Am Abend des 21.8. bzw. in der Nacht vom 21. zum 22.8. kam es im Haus 5 des [Rostocker] Südstadtwohnheimes, in dem tschechische Touristen untergebracht sind, zu einem Demonstrationsversuch und zum Versuch, die Fahne der CSSR auf Halbmast zu setzen. Durch das Einschreiten der Genossen und der Sicherheitsorgane wurden diese Aktionen verhindert.3

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Im Stadtgebiet von Güstrow wurden in der Nacht vom 21. zum 22.8. und vom 24. zum 25.8. folgende Hetzlosungen mit Kreide geschmiert: […] „Freiheit für die CSSR“ – „Helft Dubcek“. Im Stadtgebiet von Schwerin: […]„Russen raus aus der CSSR“ – „Dubcek ja, Stalin nein!“ – „Es lebe die Freiheit!“2

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Auf dem Schild der Kreisleitung der FDJ Schwerin wurden 3 Stempelaufdrucke mit dem Namen Dubcek geschmiert. 2 weitere Stempelabdrücke waren auf einem PKW des Bezirksvorstandes des FDGB angebracht.2

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Im Zusammenhang mit den Maßnahmen in der CSSR sind auch erneut Bedrohungen von Funktionären und Genossen unserer Partei zu verzeichnen.2

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Der Leiter der Sektion Schiffstechnik [der Universität Rostock] hat am 26.8.1968 die Mitteilung erhalten, daß der Aspirant K. […] Republikflucht […] begangen hat. Er hat diesen Schritt mit dem Vorgehen der soz. Länder in der CSSR begründet. K. befand sich auf einer Urlaubsreise in der CSSR.4

1) Zit. aus: Fernschreiben Bernhard Quandts, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Schwerin, an das SED-Zentralkomitee vom 21. August 2008, in: Landeshauptarchiv Schwerin, 10.34-3/2036.
2) Zit. aus: Information der Schweriner Bezirksparteikontrollkommission an die Zentrale Parteikontrollkommission der SED vom 26. August 2008, in: Landeshauptarchiv Schwerin, 10.34-3/1966.
3) Zit. aus: Kurzinformation des Prodekans für wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen
4) Zit. aus: Fernschreiben des Rektors der Universität an den 1. Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen o.D., in: Universitätsarchiv Rostock, R 535.
5) Zit. aus: Bericht des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS Rostock vom 11. September 1969, in: BStU-Außenstelle Rostock, Leiter BV 19, Bd. 3, Bl. 279.
6) Zit. aus: Bericht der Universitätsparteileitung vom 4. September 1968, in: Universitätsarchiv Greifswald, UPL 41.

+++ 22. August, Prag. In einer Erklärung des 14. Parteitages der KPC wird die CSSR als freier Staat deklariert, dessen Souveränität durch die Okkupation verletzt worden ist.
+++ 22. August, Ost-Berlin. Die DDR rechtfertigt die Invasion als „leuchtendes Beispiel des sozialistischen Internationalismus“ hätten sich mit der Bitte um „Hilfe durch bewaffnete Kräfte“ an das östliche Militärbündnis gewandt.

+++ 26. August, Moskau. Auf sowjetischen Druck unterzeichnet Dubcek ein Protokoll zur Rücknahme der Reformen. +++