Tafeln

Einführunstafel:

Mutige Frauen: Widerständiges Verhalten in Zeiten von Diktaturen

„Die Art der Herrschaft bestimmt die Art des Widerstandes. Je umfassender der Herrschaftsanspruch, desto mehr, nicht weniger Widerstand ist die Folge, denn das Regime selbst verwandelt Verhalten und Aktionen in Widerstand, die unter‚normalen Bedingungen‘ häufig überhaupt keine politische Bedeutung beanspruchen könnten.“

Ian Kershaw in: Schmädecke, J. und P. Steinbach:
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. München/Zürich 1986, S. 781.

Die Ausstellung

Nicht wenige historische Darstellungen vermitteln den Eindruck, in Zeiten von Diktaturen sei Widerstand reine „Männersache“ gewesen. Der Grund für ein solches Verständnis liegt in einem zu engem Widerstandsbegriff, in dessen Mittelpunkt der Sturz des politischen Systems steht. In den beiden deutschen Diktaturen – dem Nationalsozialismus und der DDR – gab es vor allem auch Frauen, die Widerstand leisteten, ohne dabei unmittelbar auf einen Umsturz hinzuarbeiten. Über sie ist bislang wenig bekannt. Aus welchem Milieu, welcher Gesellschaftsschicht kamen die Frauen? Wie haben sie konkret Widerstand geleistet? Was war ihre persönliche Motivation, gegen die Diktatur aufzubegehren und Zivilcourage zu zeigen? Welche Folgen hatte ihr Engagement? In welchem Verhältnis stehen Widerstand und Zivilcourage zueinander? Kommen demokratische Gesellschaften ohne Zivilcourage aus? Was bedeutet Zivilcourage für uns heute? Diese und andere Fragen haben die Denkstätte Teehaus Trebbow zu dieser Ausstellung motiviert. Sie will Frauen ein Gesicht geben, die über ihre verbale Ablehnung der Systeme hinaus konkretes Engagement im Alltag gezeigt haben. Es werden sechs unterschiedliche Widerstandshandlungen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern in drei zeitgeschichtlichen Epochen aufgegriffen: dem Nationalsozialismus (1933-1945), der Sowjetischen Besatzungszone (1945-1949) und der DDR (1949-1989). Die dargestellten Biografien stehen stellvertretend für viele andere Frauen, die Mut und Zivilcourage bewiesen haben.

Weiblicher Widerstand in Zeiten von Diktaturen

Widerstandbezeichnet einVerhalten, das sichgegen Personen, Herrschaftsformen oder einzelne politische Maßnahmen richtet. Wir haben heute im demokratischen Verfassungsstaat viele Freiheiten, um gegen Unrecht aufzubegehren. Das Widerstandsrecht ist in unserem Grundgesetz garantiert. In einer totalitären Diktatur, die sich durch den totalen Regelungsanspruch einer einzigen Partei, den Wahrheitsanspruch einer Ideologie, den Anspruch der totalen Kontrolle der Gesellschaft und der rigorosen Anwendung von Macht und Gewalt auszeichnet, ist dieses hohe Gut keine Selbstverständlichkeit. Mehr noch: Alle Formen des Widerstandes sind in einem diktatorischen System mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden. Schon ein regimekritischer Witz, ein aufklärendes Flugblatt oder eine öffentliche Demonstration führen zu Repressionen, da der politische Herrschaftsanspruch der Machthaber keinerlei Widerspruchshandlungen duldet. Jedes nicht systemkonforme Verhalten muss deshalb in einer totalitären Diktatur als Widerstand gewertet werden.
Frauen haben sich in Zeiten von Diktaturen aus religiösen, ethischen und politischen Motivationen heraus widerständig verhalten. Sie organisierten ihren Widerstand individuell oder engagierten sich in Gruppen. Ihre Handlungen und Verhaltensweisen unterscheiden sich kaum von denen der Männer. Widerständiges Handeln von Frauen zeigte sich zudem in allen sozialen Milieus. Die Frauen hinderte auch der Umstand, eine eigene Familie zu haben, nicht daran, sich gegen Willkürherrschaft aufzulehnen.
Für uns sind heute die Bedingungen und der Druck, unter dem die Frauen zur damaligen Zeit standen, schwer fassbar. Die Frauen selbst ordneten im Nachhinein ihr Widerstandshandeln häufig nicht als politisch wichtig ein. Sie sahen ihr Handeln als persönliche Pflicht an und erklärten, nur das getan zu haben, was notwendig war.
Das Handeln der Frauen macht deutlich, dass man gegen beide deutsche Diktaturen etwas unternehmen konnte. Es gab Handlungsoptionen zwischen den Extremen des völligen Gehorsams und des todesmutigen Widerstandes. Ihre Geschichten widerlegen damit auch die Entschuldigung vieler Deutscher, macht- und hilflos gegenüber dem in den Diktaturen geschehenem Unrecht gewesen zu sein.

Erika Bludschun

Kurzbiografie

  • geboren am 14.03.1929 als Erika Bludschun in Schulzenhof (Ostpreußen)
  • Erika Bludschun stammt aus einfachen Familienverhältnissen, ihr Vater war Maurer
  • 1935 bis 1943 besucht sie die Dorfschule in Norkitten (Ostpreußen) und unterstützt anschließend die Mutter im Haushalt
  • 1944 geht sie auf die Handelsschule in Insterbrug, ebenfalls Ostpreußen
  • 1945 flieht die Familie Bludschun mit ihren 5 Kindern von Ostpreußen nach Schwerin
  • 1947 besucht Erika Bludschun einen Abendkurs in Stenografie und Schreibmaschine und wird 1948 Sekretärin beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB)
  • In den Jahren 1948 bis 1949 ist sie Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei (LDP)
  • Im Dezember 1949 verlobt sie sich mit dem Schweriner Kaufmann und Kreisjugendreferenten der LDP, später LDPD, Hans-Jürgen Jennerjahn, die Verlobung mit ihm löst sie im Mai 1954
  • Von Oktober 1949 bis Juni 1950 verteilt sie gemeinsam mit anderen Jugendlichen in Schwerin Flugblätter
  • Am 8.07.1950 wird sie vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet und am 23.10.1950 in Schwerin durch das sowjetisches Militärtribunal wegen Mitarbeit in einer Widerstandgruppe und angeblicher Spionage zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager verurteilt
  • Nach dem Urteil wird sie im April 1951 gemeinsam mit anderen Verurteilten mit einem Zug in die Sowjetunion transportiert und verbüßt ihre Haft im Arbeitslager Taischet in Sibirien
  • 27.12.1953 kehrt sie nach Schwerin zurück, sie leidet unter schwerer Tuberkulose
  • Im Mai 1954 flüchtet sie in den Westen
  • Im Mai 1956 heiratet sie und nimmt den Namen ihres Mannes Jahns an
  • 1963 Geburt eines Sohnes
  • Sie stirbt am 08.12.2011 in Kamp-Lintfort

Flugblätter als Zeichen des Widerstandes

Erika Bludschun stammt aus einem unpolitischen Elternhaus. Ihr Interesse an gesellschaftlichen und politischen Ereignissen weckt ihr Freund und späterer Verlobter Hans-Jürgen Jennerjahn. Sie begeistert sich schnell für seine freiheitlich-liberalen Ideen und die des bekannten jungen Nachwuchspolitikers Arno Esch. 1948 tritt sie der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) bei. Als Esch jedoch ein Jahr später verhaftet und gemeinsam mit anderen Mitstreitern zum Tode verurteilt wird, wächst in ihr die Angst. Sie tritt aus der LDP aus und schließt sich gemeinsam mit ihrem Verlobten einer Schweriner Jugendgruppe an. Diese organisiert im Verborgenen waghalsige Aktionen, um sich gegen die stalinistischen Auswüchse in der DDR zur Wehr zu setzen. Sie, die damals 20jährige, will in einem freiheitlichen System ihre Zukunft verbringen. Als gelernte Sekretärin tippt sie die Flugblätter der Gruppe und steht „Schmiere“, wenn diese hundertfach im Schweriner Stadtgebiet verteilt werden. Mehrere Monate kann die Gruppe so ihrem Protest nachhaltig Ausdruck verleihen. Im Juni 1950 setzt jedoch die Verhaftungswelle ein.

Am Tag ihrer Verhaftung werden ihre Wohnung und die des Vaters durchsucht. Die Schreibmaschine, auf der Erika Bludschun die Flugblätter für die Gruppe tippte, wird dabei gefunden.

Zwangsarbeit in Sibirien

Am 8. Juli 1950 wird Erika Bludschun durch Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR in Schwerin verhaftet und zu Verhören ins Untersuchungsgefängnis am Demmlerplatz transportiert. Die sowjetische Geheimpolizei, die in diesem Gefängnis noch die Verhöre führt, wirft ihr vor, Mitglied einer illegalen Widerstandsgruppe zu sein. Darüber hinaus muss sie sich gegen den Vorwurf der Spionage für die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ und den „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen“ verteidigen, zweier Organisationen, die von West-Berlin aus über Verbrechen in der DDR aufklären. Unter Folter erpressen die sowjetischen Offiziere ein Geständnis. Am 23. Oktober 1950 wird sie gemeinsam mit ihren politischen Freunden zu 25 Jahren Besserungsarbeitslager durch das Sowjetische Militärtribunal verurteilt. Im April 1951 erfolgt ihr Abtransport mit dem „Sibirien-Express“ nach Taischet. Dort angekommen leistet sie Zwangsarbeit in einer Fabrik, wo sie gesundheitsschädigenden Stoffen ausgesetzt ist und schwer erkrankt. Zwei Wochen liegt sie auf der Krankenstation des Arbeitslagers im Koma. Im Dezember 1953 wird Erika Bludschun aus der Haft entlassen. Die körperlichen und psychischen Folgen der Haft sind für sie schwerwiegend. Sie ist kaum arbeitsfähig und nicht mehr in der Lage, allein in ihrer eigenen Wohnung in Schwerin zu leben. Sie leidet an der ständigen Angst, erneut verhaftet zu werden. Ohne jegliche Hoffnung, dass ihr Verlobter Hans-Jürgen Jennerjahn aus einem Straflager in der Nähe von Workuta entlassen wird, ergreift sie im Mai 1954 die Flucht in die Bundesrepublik. Sie versucht, sich dort ein neues Leben aufzubauen. Das in Sibirien erlebte Grauen lässt sie jedoch nie wieder los. Erika Bludschun, stirbt als verheiratete Jahns, im Alter von 82 Jahren in Kamp-Lintfort in Nordrhein-Westfalen.

Der Gulag, ein ausgedehntes System an Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten in der Sowjetunion, war ein Ort des Grauens für die dort inhaftierten mindestens 18 Millionen Menschen zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren. Erika Bludschun ist eine Betroffene. Unter menschenverachtenden Zuständen und katastrophalen Existenzbedingungen kämpft sie im sibirischen Arbeitslager Taischet ums blanke Überleben.

Karin Ritter

Kurzbiografie

  • Geboren am 12.04.1944 in Oppeln (Schlesien)
  • Studium der Medizin in Berlin und anschließend Ärztin in Schwedt
  • 1976 Umzug nach Güstrow und Engagement in der Friedensarbeit
  • 1983 bis 1987 arbeitet sie als Kinderärztin am Anna Hospital in Schwerin
  • 1984 gründet sie die Gruppe „Frauen für den Frieden“ in Schwerin und ist Mitunterzeichnerin eines Briefes an Erich Honecker und Helmut Kohl
  • 1986 bis 1987 wird sie zur stellvertretenden Vorsitzenden der „Arbeitsgruppe Frieden“ (AGF) der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg (ELLKM) gewählt
  • Seit 1982 nimmt sie regelmäßig an den Mecklenburger Friedenswanderungen und am jährlichen DDR- weiten Treffen „Frieden konkret“ der kirchlichen Friedensbewegung teil
  • Außerdem ist sie Redakteurin bei der Zeitung „Friedensnetz“ der „Arbeitsgruppe Frieden“
  • Sie hat viele Kontakte zur Berliner Oppositionsszene um Bärbel Bohley und Ulrike Poppe sowie zu Mitgliedern der Charta 77 in der CSSR
  • 1988 bis 1989 Kinderärztin in der Poliklinik in Schwerin auf dem Großen Dreesch
  • im November 1990 stirbt Karin Ritter

Gegen die Militarisierung der Lebensbereiche

Für Freunde ist Karin Ritter die ständig nach Zusammenhängen Fragende, die Kompromisslose und Unermüdliche. 1976 zieht sie nach Mecklenburg und wird eine der couragiertesten Frauen der kirchlichen Friedensbewegung. 1984 ruft sie die Gruppe „Frauen für den Frieden“ in Schwerin mit ins Leben. Sie orientiert sich dabei an den Aktivitäten ihrer Freundinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, die zwei Jahre zuvor eine solche Gruppe in Berlin gegründet hatten und seitdem mit vielfältigen spektakulären Aktionen gegen die Sicherheitspolitik der DDR agierten. Anlass für die Organisation der Frauen ist die Verabschiedung eines neuen Wehrdienstgesetzes, das vorsah, Frauen im Verteidigungsfall einzuziehen. Dagegen protestiert Karin Ritter ebenso vehement wie gegen die Indoktrination in den Bildungseinrichtungen und die Ungleichbehandlung der Frauen in der DDR. Karin Ritter organisiert die Mecklenburger Friedenswanderungen mit, pflegt nationale und internationale Kontakte zu anderen Friedensbewegten und plädiert immer wieder für ein Agieren der Gruppen außerhalb des kirchlichen Schutzraumes, um mehr Öffentlichkeit für die Ziele herstellen zu können. 1986 wird sie stellvertretende Vorsitzende der „Arbeitsgruppe Frieden“ der ELLKM, die der Vernetzung der bestehenden kirchlichen Friedensgruppen in Mecklenburg dient und im Oppositionsmilieu politisches Gewicht hat. Karin Ritter scheut bei der Umsetzung ihrer Ziele keine Risiken. Sie fordert die staatlichen Organe heraus, da sie die bestehende Gestalt des Sozialismus in der DDR in Frage stellt.

„Zersetzung“ durch den Staatssicherheitsdienst

Karin Ritter wird seit 1979 vom Staatssicherheitsdienst verfolgt. Sie ist den verschiedensten repressiven Maßnahmen ausgesetzt. Postkontrolle, der Einsatz von Spitzeln, die Überwachung des Telefons sind nur ein Teil der Verfolgungsstrategien. Gegen Karin Ritter kommt auch eine Repressionsmethode zum Einsatz, die im MfS-Jargon „Zersetzung“ heißt. Ziel ist es, Karin Ritter durch Zersetzungsmaßnahmen psychisch so zu destabilisieren, dass sie weder Zeit noch Energie für ihr politisches Handeln hat. So wird Karin Ritter mit zahllosen Gerüchten konfrontiert, die unter anderem enge Freunde als Spitzel in Verdacht bringen. Auf ihrer Arbeitsstelle werden berufliche Misserfolge inszeniert und es wird verdeckt verhindert, dass sie eine neue berufliche Tätigkeit in einem Landambulatorium aufnimmt. Besonders perfide wirkt sich jedoch für Karin Ritter aus, dass MfS-Mitarbeiter mehrmals hintereinander im geheimen in die Wohnung der Friedensaktivistin einbrechen. Einmal verhängen sie die Bilder in ihrer Wohnung. Beim nächsten konspirativen Einbruch verstellen sie nur die Gewürzdosen in der Küche. Ein anderes Mal tauschen sie den Lieblingstee von Karin Ritter durch andere Sorten um. Die Stasi-Mitarbeiter lassen sich immer wieder was Neues einfallen. So ordnen sie auch die Blumentöpfe auf den Fensterbänken neu. Die Kombination all der geheimpolizeilichen Maßnahmen gegen Karin Ritter hat so schwerwiegende psychische Folgen, dass sie sich seit 1988 aus der politischen Arbeit immer mehr zurückzieht, weil sie unter Angstzuständen und Depressionen leidet. Nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie nimmt sich Karin Ritter im Herbst 1990 das Leben.

Gerda Voss

Kurzbiografie

  • geboren am 3.4.1910 als Gerda Fuckel in Dieringhausen (Rheinland)
  • der Vater Friedrich Fuckel ist Pastor, die Mutter Martha Lehrerin
  • Gerda Voss hat eine Schwester und 3 Brüder
  • die Brüder, überzeugte Nazis, sterben alle im Zweiten Weltkrieg an der Front
  • 1916 bis 1930 besucht sie die Schule in Köln und legt dort auch das Abitur ab
  • 1931 heiratet sie den Pastor Gerhard Voss und zieht mit ihm nach Klaber bei Teterow
  • sie betätigt sich seitdem als Hausfrau
  • 1932 bis 1949 Geburt von sieben Kindern, zwei Kinder sterben
  • 1938 Umzug nach Prokrent, weil ihr Mann die dortige Pfarrstelle übernimmt
  • 1940 wird der Ehemann als Funker in die Wehrmacht einberufen
  • 1944 bis 1945 versteckt sie zwei jüdische Mädchen in ihrem Haushalt vor den Nationalsozialisten und ermöglicht ihnen damit das Überleben
  • im Frühjahr 1945 beherbergt sie über 40 Kriegsflüchtlinge im Pfarrhaus
  • im August 1945 Rückkehr des Ehemannes aus dem Krieg
  • im November 1945 übernimmt ihr Mann die Pfarrstelle der Paulsgemeinde in Schwerin, die Familie zieht mit den Kindern nach Schwerin
  • als ihr Mann 1970 in den Ruhestand geht, organisiert sie die Frauenarbeit in der Paulsgemeinde
  • Gerda Voss stirbt am 2.01.1996 in Schwerin

Das Pfarrhaus wird zum Zufluchtsort für Jüdinnen

Luise Balmberger ist ein junges Mädchen, das in Köln lebt. Als die Verfolgung der Juden in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht, ist auch Luise betroffen. Ihre Mutter ist Jüdin, Luise wird damit von den Nazis als „Halbjüdin“ eingestuft. Die Familie beginnt permanent durch Deutschland zu reisen, um die Mutter vor einer Deportation nach Theresienstadt zu bewahren. Der Vater von Gerda Voss, Friedrich Fuckel, ist mit der Familie Balmberger befreundet und hilft ihr in der lebensbedrohlichen Situation. Er bringt Luise bei seiner Tochter Gerda Voss in Pokrent unter.

Der vor allem durch den Vater vermittelte Glaube an Gott und die damit verbundenen Werte von Nächstenliebe, Toleranz und Gleichberechtigung bewahren Gerda Voss anders als ihre Brüder davor, dem nationalsozialistischen Wahn zu verfallen. „Unsere Mutter“, so sagt ihr zweitältester Sohn Johannes Voss, „war eine unpolitische, aber sehr soziale und fürsorgliche Frau. Sie zögerte deshalb nicht, Luise bei uns aufzunehmen.“

Luise Balmberger kommt im Frühjahr 1944 in das Pfarrhaus und bleibt bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Pokrent. Während viele verfolgte Juden in Deutschland, sich in Dachwohnungen, Hinterzimmern oder Kellern Monate, manchmal Jahre bei ihren Helfern geräuschlos verstecken, ereilt dieses Schicksal die damals 14jährige Luise nicht. Denn Gerda Voss sucht nach der Ankunft von Luise in Pokrent den Bürgermeister des Ortes auf. Dieser ist Mitglied der NSDAP: einer Partei, die jüdisches Leben für unwert hält. Gerda Voss zeigt ihm dennoch die Meldekarte von Luise. Dabei sagt sie, – so hat sie es ihren Kindern später einmal erzählt -:„Herr Wanzenberg, Sie sehen ja, Luise ist ‚Halbjüdin‘ – Sie müssen wissen, was Sie daraus machen.“ – „Ist schon gut, Frau Voss!“ soll er geantwortet haben. Der Bürgermeister behält letztlich für sich, dass das neue Mädchen im Haushalt von Gerda Voss eine Jüdin ist. Es gibt keine Nachfragen, keine Vorladungen, keine Verhaftungen. Dieser risikoreiche und couragierte Schritt von Gerda Voss ermöglicht Luise eine Kindheit: Sie spielt mit den Kindern im Garten des Pfarrhauses, besucht die Dorfschule und bekommt Lebensmittelkarten. Sie erlebt das letzte Kriegsjahr in Pokrent, ohne sich verstecken zu müssen, ohne ausgegrenzt zu werden. Dass Luise Balmberger Jüdin war, hat Gerda Voss ihren Kindern erst nach dem Ende des Krieges erzählt.

„Ich musste doch helfen“

Im Herbst 1944, alle Mecklenburger Juden sind bereits in Konzentrationslager abtransportiert, fragt der befreundete Berliner Pastor Johannes Schwarzkopff bei Gerda Voss an, ob sich eine junge Frau bei ihr einige Zeit ausruhen und erholen könne. Gerda Voss ahnt erneut, dass es sich um eine Jüdin handelt. Wieder zögert sie nicht. Sie verdrängt Gedanken an all die Strafen, die ihr drohen, wenn bekannt wird, dass sie zwei Jüdinnen in ihrem Haushalt Zuflucht bietet. „Ich musste doch helfen“, so kommentiert Gerda Voss später selbst die Ereignisse.
Die junge Jüdin ist Rosemarie Dessauer aus Berlin. Sie entkommt im März 1943 als einzige ihrer Familie derVerhaftung und anschließenden Deportation in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz nur durch einen Zufall. Seitdem lebt sie auf der Flucht, um den Denunzianten und Schergen nicht aufzufallen. Sie hat weder Ausweispapiere noch Lebensmittelkarten und braucht ständig neue Versteckmöglichkeiten. Unter dem Namen „Maria Weber“ findet die damals 21jährige im Herbst 1944 Unterschlupf bei Gerda Voss. Sie wird allen als Haushaltshilfe und Kindermädchen vorgestellt. Vier Wochen bleibt „Maria Weber“ in Pokrent, dann zieht sie weiter zu der Schwägerin von Gerda Voss in das Pfarrhaus in Belitz und später noch zu anderen Pastorenfamilien in Mecklenburg. Rosemarie Dessauer überlebt den Holocaust und emigriert 1946 in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Briefwechsel zwischen Yad Vashem und Gerda Voss

Quelle: Privatarchiv Elfriede Voss

Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ist der wichtigste Ort, der an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert. Als „Gerechte unter den Völkern“ werden Personen bezeichnet, die in der Zeit des Nationalsozialismus versucht haben, Juden vor der Verfolgung und Deportation zu bewahren. Zwischen 1941 und 1945 leben schätzungsweise 10.000 bis 15.000 jüdische Menschen in Verstecken. Etwa einem Drittel, das heißt bis 5.000 Juden gelingt es, auf diese Weise zu überleben. Zwei Drittel der Hilfeleistenden, die verfolgte Juden unterstützen, sind Frauen. Den nichtjüdischen HelferInnen drohen die Einweisung in ein Konzentrationslager (in einigen Fällen mit Todesfolge), Gefängnis- und Zuchthausstrafen, Haft im Gestapo-Gefängnis, Verwarnungen oder Geldbußen.

Annette Beleites

Kurzbiografie

  • Geboren 1959 in Gransee, Brandenburg
  • Aufgewachsen in Guten Germendorf und Halle/S.
  • 1978 Abitur in Halle/S.
  • 1978 bis 1984 studiert sie Biologie in Leipzig
  • 1980 bis 1983 engagiert sie sich in der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) in Leipzig und übernimmt in den Jahren 1982 bis 1983 die Leitung des Friedenskreises der ESG
  • 1984 bis 1988 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bezirkspoliklinik Schwerin
  • 1985 bis 1991 leitet Annette Beleites die kirchliche Umweltgruppe in Schwerin und organisiert die jährlich stattfindenden Schweriner Umweltseminare
  • 1985, 1987 und 1988 nimmt sie an den Treffen der Friedens- und Umweltgruppen „Frieden konkret“ in Schwerin, Leipzig und Cottbus teil
  • Seit 1987 arbeitet sie in der„Arbeitsgruppe Frieden“ der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs (ELLKM) mit
  • 1988 bis 1990 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg
    1988 delegiert sie die ELLKM zur Theobalt-Konferenz in Visby (Schweden) und 1988 bis 1989 nimmt sie an der Ökumenischen Versammlung der DDR„Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ teil
  • 1990 wird sie Mitglied des Runden Tisches der Stadt Schwerin für die Grüne Liga
  • Seit 1990 übt sie verschiedene berufliche Positionen in der Naturschutzverwaltung aus
  • 1991 bis 1994 Abgeordnete in der Schweriner Stadtvertretung
  • 1999 Geburt eines Sohnes

Widerstand gegen die staatliche Umweltpolitik

Den offiziellen Verlautbarungen der SED-Führung zufolge gibt es in der DDR keine gravierenden Umweltprobleme. Verschmutzte Gewässer, Smog und Waldsterben kennen die DDR-Bürger angeblich nur aus dem Westfernsehen. Doch Annette Beleites reicht ein Blick vor die eigene Haustür, eine Gewässerprobe aus der Saale oder ein Ausflug ins Riesengebirge, um zu begreifen, dass die SED auch bei der Umweltzerstörung tabuisiert, vertuscht und lügt. Schon während ihrer Studienzeit in Leipzig begehrt sie dagegen auf. Als sie dann 1984 nach Schwerin zieht, ruft sie eine Umweltgruppe ins Leben, die sich der umweltpolitischen Missstände annimmt und versucht mit regionalen Aktionen, Öffentlichkeit für ihre Anliegen herzustellen. Annette Beleites organisiert Umweltseminare zu unterschiedlichen Themen für Interessierte aus der ganzen DDR, initiiert Baumpflanzaktionen, Eingaben an staatliche Behörden, hält Vorträge und veröffentlicht Texte in kirchlichen Zeitungen oder im Samisdat.

Verfolgung wegen „staatsfeindlicher Hetze“

Doch wer in der DDR behauptet, dass es Waldsterben und Luftverschmutzung gibt, läuft Gefahr, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verfolgt zu werden. Denn Feind sind aus Sicht von Partei und MfS potentiell all diejenigen, die in Theorie und Praxis das Herrschafts- und Deutungsmonopol der SED in Frage stellen. Wie auch im Fall von Annette Beleites. Mit der Zunahme ihrer politischen Aktivitäten, die immer mehr Menschen mobilisieren, wird sie SED und MfS ein Dorn im Auge. Seit 1987 ist das MfS deshalb mit geheimpolizeilichen Mitteln gegen Annette Beleites aktiv. Dazu gehören verdeckt organisierte Einschnitte in ihre Berufsbiographie, das Säen von Zwietracht innerhalb der Umweltgruppe, der Einsatz von mindestens 5 Spitzeln und Vorladungen zu sogenannten „Disziplinierungsgesprächen“ bei staatlichen Behörden. SED und MfS machen Druck bei ihr, die umweltpolitischen Aktionen aufzugeben und aus den überregionalen Netzwerken auszusteigen. Doch Annette Beleites lässt sich nicht einschüchtern. Sie engagiert sich couragiert weiter. Ihre sozialethische Motivation, Zeichen für eine umweltgerechte Zukunft zu setzen, prägt ihren Lebensweg bis heute.

Margarethe Lachmund

Kurzbiografie

  • 1896 als Margarethe Grobbecker in Wanzka bei Neustrelitz geboren
  • Ihr Vater Adolf Grobbecker ist Pastor
  • Ausbildung als Lehrerin in Schwerin
  • 1921 heiratet sie den Juristen Hans Lachmund und lebt mit ihm bis 1934 in Schwerin
  • 1923 Geburt eines Sohnes
  • 1927 tritt sie der SPD bei, 1933 wird die Partei verboten
  • 1933 Umzug nach Warin, weil der Ehemann als SPD-Mitglied dorthin von den Nazis strafversetzt wird
  • Seit 1933 ist sie im Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig und organisiert sich in der internationalen Quäkergemeinschaft
  • 1934 zieht sie mit ihrem Mann nach Anklam und erlebt unmittelbar die Deportation der Juden
  • In den folgenden Jahren hat sie umfangreiche Kontakte zu sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandsgruppen, u.a. Robinsohn-Strassmann-Gruppe, Anton Saefkow-Gruppe und der Roten Kapelle
  • Nach der Reichspogromnacht am 9.11.1938 werden ihre Kontakte zum Quäkerbüro in Berlin und zur „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ enger
  • 1940 Umzug nach Greifswald
  • Nach dem Kriegsende wird ihr Mann willkürlich im Speziallager Fünfeichen in Neubrandenburg inhaftiert, anschließend von 1950 bis 1954 in Waldheim
  • 1945 bis 1947 ist Margarethe Lachmund verantwortlich für die Sozialfürsorge in Greifswald
  • 1948 bis 1954 leitet sie das Büro der Quäker in Ost-Berlin und lebt im Westteil der Stadt
  • Anschließend engagiert sie im Friedensausschuss der Quäker und setzte sich für eine deutsch-deutsche Friedenspolitik ein
  • 1985 stirbt sie in Köln

Die politische Kämpferin

Sie ist mehr als nur die Ehefrau an der Seite von Hans Lachmund, der einer der bedeutendsten Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus in Mecklenburg ist. Früher als ihr Mann tritt sie der SPD bei, die 1933 von den Nationalsozialisten verboten wird. Sie zieht ihn mit nach„links“, nicht umgekehrt. Antrieb für ihr Handeln ist ihr unbedingter und vorbehaltloser Wille nach Frieden, Gerechtigkeit und Humanität. Ihr Zusammentreffen mit englischen Quäkern, deren Glaube und Ethik den unbedingten Schutz jeden menschlichen Lebens beinhalten, ist für ihren politischen Lebensweg sehr prägend. Sie schließt sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 der Quäkergemeinschaft an und unterstützt in ihren Wohnorten Warin, später Anklam und Greifswald verfolgte Juden. Sie beschafft ihnen Verstecke, versorgt sie mit Nahrung und ermöglicht einigen die Flucht ins Ausland. „Sie verstand, es zu organisieren“, urteilt eine ihrer langjährigen Freundinnen, die kommunistische Widerstandskämpferin Greta Kuckhoff. Beide Frauen lernen sich 1934 in einem Erholungsheim der englischen Quäker in Bad Pyrmont kennen, in dem auch Verfolgte des Nationalsozialismus Zuflucht finden. Margarethe Lachmund arbeitet dort zwei Jahre. Als sie 1937 eine internationale Konferenz der Quäker in den USA besucht und dort mehr über die Ausmaße der Verfolgung von Quäkern, Juden und Mitgliedern demokratischer Parteien in Deutschland erfährt, beschließt sie, den Weg in den aktiven Widerstand zu gehen. Sie will nicht innerlich emigrieren, sich nicht zurückziehen in die private Nische und den Ereignissen ihren Lauf lassen. Sie nimmt den Kampf auf, um Schlimmeres zu verhindern.

Der Weg in die Widerstandsgruppen

Margarethe Lachmund engagiert sich in der im Untergrund arbeitenden Robinsohn-Strassmann-Gruppe, die Nachrichten über die Verbrechen in Deutschland sammelt und das Ausland darüber informiert, in der Hoffnung Hilfe zu erhalten. Darüber hinaus baut die Gruppe ein Netzwerk an Personen auf, die bei einer Niederlage der Nationalsozialisten an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaltstellen zur Verfügung stehen sollen. Die Robinsohn-Strassmann-Gruppe hat wiederum Kontakte zu anderen deutschen Widerstandsgruppen wie dem Goerdeler Kreis, dem Kreisauer Kreis und dem militärischen Widerstand. Als im Herbst 1942 Verhaftungen von Gruppenmitgliedern einsetzen, organisiert sich Margarethe Lachmund in der Anton-Saefkow-Gruppe, einer der größten Widerstandsgruppen der KPD. 1943 wird sie in Greifswald in der Gruppe „Nationalkomitee Freies Deutschland“ aktiv und sorgt mit dafür, dass die Stadt ohne Gewalt an die Rote Armee übergeben wird. Zwischenzeitlich hat Margarethe Lachmund immer wieder Überwachungen, Bespitzelung, Denunziation und Hausdurchsuchungen erlebt. Sie wird von der Gestapo aber nie als Mitglied einer Widerstandsgruppe enttarnt, was sie mit ihrem Leben bezahlt hätte.
Nach dem Krieg bleibt Margarethe Lachmund ihren pazifistischen Grundsätzen treu. Sie betätigt sich im Friedensausschuss der Quäker, setzt sich gegen die Wiederbewaffnung ein und kämpft für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Sie stirbt 1985 in Köln und wird auf dem Quäkerfriedhof in Bad Pyrmont beigesetzt.