Vortrag

Dr. Harald Schmid

Courage
Historische Reflexionen über eine zeitlos unbequeme Tugend

Vortrag in Klein Trebbow, 15. September 2012

„Teehausgespräch“ im Rahmen der Ausstellung „Mutige Frauen: Widerständiges Verhalten in Zeiten von Diktaturen“ in der Denkstätte Teehaus Trebbow

EINLEITUNG

Berlin-Plötzensee, Sommer 1943: In den Abendstunden des 5. August ließ das Reichskriegsgericht 13 Frauen hinrichten:

Diese 13 Frauen, zusammen ermordet mit drei Männern, wurden von Hitlers „furchtbaren Richtern“ beschuldigt, eine „bolschewistische Hoch- und Landesverratsorganisation“ gebildet zu haben.BekanntwurdedieGruppespäterunterden Namen „Rote Kapelle“ und „Schulze-Boysen-Kreis“. Zwei Wochen vor der Hinrichtung hatte Hitler ein Gandengesuch abgelehnt.

Die im Rahmen der Prozesse gegen die „Rote Kapelle“ von Hitlers juristischen Schergen ermordeten Frauen und Männer – insgesamt 36 Männer und 19 Frauen – hatten Courage gezeigt, in einer Zeit, in der abweichendes Verhalten lebensgefährlich war. Sie hatten an Diskussionen in den Kreisen um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen teilgenommen und kleinere Aktionen gegen das nationalsozialistische Regime mitgemacht: Entwerfen und Verteilen von Flugblättern, „Dokumentieren von Verbrechen des Dritten Reiches“, Hilfe für Verfolgte, Verbindungen knüpfen zu anderen Gegnern Hitlers. – Einer von vielen Justizmorden des „Dritten Reiches“, einer, dem auch viele Frauen zum Opfer fielen, Frauen, die heute fast niemand kennt.

Ich habe mit dem Hinweis auf die Frauen der „Roten Kapelle“ begonnen, um zweierlei deutlich zu machen: dass es neben Sophie Scholl und den „Frauen des 20. Juli 1944“ viele andere mutige Frauen gab, und dass viele dieser Frauen, die ganz in unserem heutigen Sinne gehandelt haben, bis heute kaum öffentlich bekannt sind. Sie standen lange, allzu lange „im Schatten der Helden“, schrieben Barbara Distel und Wolfgang Benz 1987. Man könnte ergänzen: Die lange Zeit vorherrschenden „Klischee(s) vom passiven weiblichen Erdulden und Erleiden“ (Distel/Benz) sowie des „schwachen Geschlechts“, das bestenfalls passiven Widerstand, ansonsten gleichsam Kofferträgerin der eigentlichen Widerstandshelden gewesen seien, verhinderten einen genaueren Blick auf die Beteiligung von Frauen am Kampf gegen Staat und Verbrechen Hitlers. Inzwischen ist die Forschung um einiges vorangekommen. Diverse Einzelstudien ebenso wie Gesamtdarstellungen haben unser Wissen vertieft und differenziert. Seither lässt sich die hergebrachte dichotomische Sichtweise auf Männer und Frauen auch in diesem Bereich so nicht mehr aufrechterhalten: Frauen waren ein wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen den Nationalsozialismus. Beispielsweise die Hilfe für und die Rettung von Verfolgten haben größtenteils Frauen geleistet; man muss freilich den Kampf gegen die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis erst einmal begreifen als Widerstand gegendiesezentraleZiel des „Dritten Reichs“. Insofern sei gleich am Anfang gesagt: Begriffe lenken auch unsere Erinnerung. Doch dazu nachher mehr.

Ziel des Vortrages ist es, einige Reflexionen, Fragen und Thesen zum Thema vorzustellen, um so vielleicht ein paar Anstöße für die historisch-politische Urteilsbildung zu geben. Im Weiteren geht es mir darum, v.a. die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts für unsere Gegenwart fruchtbar zu machen.Denn, und das ist meine erste These, über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu sprechen, ist nicht nur eine Sache von Historikern und Politikern, sondern geht alle an, die sich für die Grundlagen deutscher Demokratiegeschichte und heutige Traditionslinien dieser Demokratie interessieren. Hier setzt die zweite These an: Widerständigkeit in Gegenwart und Zukunft braucht Traditionen, auch die Widerständigkeit im freiheitlichen Verfassungsstaat. Darauf gehe ich im zweiten Teil des Vortrages ein, in dem es um Erinnern als Traditionsfrage geht. Schließlich wird es im dritten und letzten Teil darum gehen, weshalb Frauen als Teil des Widerstands bislang so wenig wahrgenommen werden. Hier lautet meine These: Die aktuelle Wahrnehmung von Frauen als historische Akteure ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung und Differenzierung hin zu Geschlechtergerechtigkeit. Ein maßgeblicher Faktor hierbei ist die Erinnerungskultur.

BEGRIFFE

Spricht man von „Widerstand“, sei es gegen das SED-Regime oder Hitlers „Drittes Reich“, nimmt man ein großes, ein pathetisches Wort in den Mund. Ein Wort, das angesichts der verheerenden Bilanz des Hitler-Regimes gewissermaßen immer auch ein normativer Rettungsanker war im Rückblick auf deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Motto: „Zum Glück gab es ja den Widerstand!“ Dieser Stoßseufzer im Reflektieren der Relationen von Mitmachen und Verweigern angesichts diktatorischer Zustände kann auch eine Brücke zum Nachdenken über das gegenwärtige Verhältnis von Mitmachen und Funktionieren einerseits und Kritik andererseits sein. Denn auch die freiheitlich verfasste Gesellschaft muss sich immer wieder fragen, wo die Grenzen der „Volksherrschaft“ liegen. Immerhin sieht das Grundgesetz der Bundesrepublik seit 1968 ein Recht auf Widerstand vor. Bleiben wir zuerst in der Vergangenheit, genauer bei der Frage, wie wir uns dieser Vergangenheit nähern könnten.

Sich dem Thema „Widerstand“ mit Blick auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu nähern, ist immer auch eine Frage nach den Begriffen, die diese Perspektive anleiten. Worüber reden wir: über Widerstand (sei es aktiver oder passiver Widerstand, sei es gewaltsamer oder gewaltfreier Widerstand)? Reden wir über Protest, Auflehnung, zivilen Ungehorsam oder Opposition? Oder über Widerspruch, Selbstbehauptung, Mut, Zivilcourage oder Engagement, über Illoyalität, Resistenz und Verweigerung oder über Differenz, Dissens, Passivität und Distanz? Nehmen wir die damit angesprochenen Handlungsfelder ernst, dann müssen wir von ganz unterschiedlichem regimekritischen Verhalten ausgehen, das sich auf alle nicht-konformen Verhaltensformen erstreckt. Manche sagen dazu „weiter Widerstandsbegriff“, ich glaube stattdessen, dass es präziser ist, hier von einem Verhaltensspektrum zu sprechen, auf dem sich die verschiedenen Praxen genau abbilden lassen.

Geht man noch einen Schritt weiter und analysiert die unterschiedlichen Formen von Gegenwehr gegen das System, dann zeigen sich die vielfältigen Unterschiede: Fragt man nach den Akteuren des Widerstands, nach ihren Zielen und Motiven, aber auch nach den zeitgenössischen Bedingungen des Handelns sowie den Formen und Stufen resp. Grade des regimekritischen Verhaltens, so wird deutlich: Die NS-Herrschaft löste eine Vielfalt abwehrender, die Übergriffe des Systems punktuell oder grundsätzlich bekämpfende Impulse aus. Um dieses Spektrum „abweichenden politischen Verhaltens“ soll es gehen und auf dieser Basis interessieren mich in grundsätzlicher gesellschaftlicher Hinsicht die „Resistenzpotenziale“ (Peter Steinbach), die es zum Widerstehen braucht.
Doch der Fragen noch nicht genug. Wenn wir uns auch der Rolle und Bedeutung von Frauen im Widerstand gegen Diktaturen im 20. Jahrhundert widmen wollen, dann müssen wir uns über die Lenkung des Blicks im Klaren sein, wie er durch unsere Gegenwart geprägt wird. Hier kommen mehrere Motive zusammen. Zum einen blicken wir aus einer gendersensiblen, auf Geschlechtergerechtigkeit und -gleichberechtigung orientierten Gegenwart zurück in eine Vergangenheit vor sieben, acht Jahrzehnten, die davon noch weit entfernt war (wohlgemerkt, das ist der Ideenund Wertehimmel, der die noch alles andere als perfekte Praxis überwölbt). Zum anderen blicken wir aus einer Gegenwart zurück, die Widerstand gegen Diktaturen inzwischen in ihren Wertekonsens integriert hat, sodass jeder Widerstand, jede Aktion gegen die Ziele der jeweiligen Diktatur sozusagen auf die geschichtspolitische Waage kommt, deren eine Waagschale schwer mit den Verbrechen, den Tätern und Mitläufern belastet ist und deren andere Waagschale jedes Gegengewicht humanen Verhaltens gerne aufnimmt. Wir stehen also aus Gegenwartsgründen und -motiven heraus immer auch in Gefahr, historische Ereignisse massiv zu verzeichnen.

Als Leitbegriff für meinen Vortrag habe ich jedoch nicht „Widerstand“ gewählt, sondern „Courage“. Das französischstämmige Wort hat in der Verbindung mit dem Zivilen als „Zivilcourage“ breiteren Eingang ins Deutsche gefunden. Courage, die motivationelle Brücke zum nonkonformen Verhalten, möchte ich deshalb in den Mittelpunkt des Nachdenkens über Verhaltensweisen angesichts undemokratischer oderdemokratiebedrohender Herrschaftsformen stellen, weil es auf den individuellen Modus verweist, der die Voraussetzung jeder Verweigerung oder jeden Widerstands darstellt. Mit Courage – weit mehr implizierend als der deutsche Ausdruck „Mut“ – ist viel möglich, ohne Courage bleibt es beim Mitlaufen und Mitmachen. Courage ist freilich nicht bloß eine Kategorie des Handelns, vielmehr fängt Courage bereits im Wahrnehmen und Denken an. Man muss sich trauen, bestimmte Dinge zu denken, man muss sich ermutigen, bestimmte Wahrnehmungen infrage zu stellen, man muss die Courage aufbringen, Abweichungen und Entfernungen zum Mehrheitsdenken und –verhalten auszuhalten. Denn das Reflektieren und kritische Durchdenken gesellschaftlicher Verhältnisse setzt bereits etwas voraus, das eine enge Verbindung zur Courage aufweist: die Bereitschaft, sich außerhalb eines Konsenses zu stellen.

Dass „Courage“ auch der Titel einer von 1976 bis 1984 in Westberlin erschienenen, linksfeministischen Zeitschrift ist, sollte man dabei auch wissen. Wie kamen die Frauen auf diesen Namen? Zwei literarische Einflüsse waren bestimmend, Bertold Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ und Grimmelshausens Figur der Landstreicherin Courage in seinem Schelmenroman „Trutz Simplex“ (ca. 1669). In der ersten Ausgabe der Zeitschrift schrieb die Historikerin Barbara Duden zur Wahl des Namens Courage als Sinnbild für das hier favorisierte Frauenbild: „Lust und Witz prägen ihren Lebenskampf. Ihre Neugierde ist unendlich, hält sie am Leben. Ihr Blick macht Kleinigkeiten groß, Nebensächliches zur Hauptsache. Ihre Freiheit verteidigt sie mit allen Mitteln. Courage – die selbständig handelnde Frau. Nicht als ungebrochenes Idealbild, wohl aber: sich nicht mit bestehenden Verhältnissen zufrieden geben. Alternativen denken und leben. Dafür mag Courage stehen.Nicht mehr und nicht weniger“ (Gisela Notz). Courage steht hier also für das „Sinnbild der kämpferisch selbständig handelnden Frau“ (Notz). In diesem Sinne verwende ich den Begriff auch, allerdings nicht nur für weibliches Verhalten, denn mir scheint, dieses Sinnbild taugt für beide Geschlechter.

Das Reden über Widerstand steht immer auch in Gefahr, die betreffenden Akteure zu überhöhen, dabei waren sie Menschen, die in eine bestimmte Situation gestellt waren. Oft waren es anfangs überzeugte Regimeanhänger, vielfach Mitläufer, manchmal gar Täter im Kontext der Regimeverbrechen, wiederum andere sahen schon früh das Unheil sein Lauf nehmen und waren dementsprechend von Anfang an auf der ablehnenden, mithin widerständigen Seite.

ERINNERN ALS TRADITIONSBILDUNG

Jedes Reden über den Widerstand ist Teil der gesellschaftlichen Traditionsbildung. Macht man sich dies klar, dann sollte man sich zumindest kurz vor Augen halten, in welchen Traditionen wir stehen.

Die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatte in der Bundesrepublik und in der DDR je einen festen Platz in der politischen Kultur. Allerdings wurden ganz unterschiedliche Widerstandsbilder und damit verbundene politische Identitäten konstruiert. Schematisch gesagt: Der blinde Fleck der einen Seite war der Fokus der anderen Seite. So standen sich lange Zeit die Erinnerung an den kommunistischen Widerstand einerseits und die Erinnerung an den bürgerlich- militärischen Widerstand gegenüber. So wie Stauffenbergs Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 in der DDR lange Zeit primär nur zur Diffamierung der beteiligten bürgerlich-militärischen Eliten genutzt wurde, so war die Thematisierung des kommunistischen Widerstands lange Zeit in der Bundesrepublik weitgehend ein randständiges subkulturelles Phänomen. Kriminalisierung der KPD im Westen und Kriminalisierung bürgerlich-demokratischer Alternativen zum SED-Regime in der DDR korrespondierten gleichsam miteinander. Erst in den siebziger und achtziger Jahren begannen sich diese Engführungen beiderseits der deutsch-deutschen Grenze langsam aufzulockern. Diese spiegelbildlichen Geschichtsbilder mit ihren charakteristischen Leerstellen war in Zeiten des Kalten Krieges und der deutschen Teilung Normalität. – Eine solche scheinbar „gleichmacherische“ Gegenüberstellung der Widerstanderinnerung in der DDR und in der Bundesrepublik darf selbstverständlich nicht über die kategorischen Systemunterschiede zwischen Bonn und Ostberlin hinweggehen – hier freiheitliche Demokratie, dort sozialistische Einparteiendiktatur. Auch nicht über die unterschiedliche geschichtspolitische Bedeutung des öffentlichen Erinnerns, die für die SED eine zentrale, ja konstitutive legitimatorische Funktion hatte, um zu zeigen, dass die neue sozialistische Elite aus dem Widerstand gegen den Faschismus hervorgegangen und so mit der Sowjetunion auf der Seite der „Sieger der Geschichte“ stehe. Umgekehrt fungierte die westdeutsche Erinnerung an den bürgerlich-militärischen Widerstand v.a. des 20. Juli 1944 als schwierige, in der Bevölkerung lange mit beträchtlichen Vorbehalten aufgenommene Vergegenwärtigung eines Scheiterns, das zu den Vorläufern des bundesrepublikanischen Verfassungsdenkens und Wertehorizonts gezählt wurde.

Die Frage nach der Rolle von Frauen im Widerstand gegen das NS-Regime fand erst spät, im Grunde erst in den letzten beiden Jahrzehnten Eingang in die Zeitgeschichtsforschung. Dabei spielte bereits die Auseinandersetzung mit der Oppositionsgeschichte in der DDR eine Rolle, also jene zweite Ebene, die bei jeder solchen historischen Reflexion Teil des Nachdenkens sein muss.

Frauen im Widerstand, Widerstand von Frauen ist sowohl fürdie DDR als auch für den Nationalsozialismus inzwischen besser erforscht. Dies ist vor allem eine Folge der inzwischen durchgesetzten gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit einer geschlechtersensiblen Wahrnehmung, auch in historischen Rückblicken. Diese Wechselwirkung zwischen Gegenwartsperspektiven und Geschichtswahrnehmung ist zwar immer wieder zu beobachten, im Falle der Frage nach Frauen und Widerstand aber besonders auffällig.

Sehr eindrücklich lässt sich diese Wechselwirkung am „Frauenprotest in der Rosenstraße“ studieren, einem Geschehen, über das wir wenig handfeste nachweisbare Informationen haben, das aber eine gleichsam blühende „zweite Geschichte“ hat. Es geht dabei um die „Fabrik-Aktion“ im Februar 1943: In dieser Razzia verhafteten Gestapo und SS die bis dahin noch von der Deportation verschonten Juden, die noch als Zwangsarbeiter tätig waren; unter den 8.000 Verhafteten befanden sich in Berlin auch 2.000 Juden aus sog. privilegierten Mischehen, diese wurden in ein Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße nahe des Alexanderplatzes verbracht. Schon am Abend des 27. Februar, dem Tag der Verhaftung, begann ein tagelanger Protest von mehreren hundert Angehörigen der Verhafteten, vorwiegend der betroffenen Ehefrauen, die sich vor dem Gebäude versammelten und sich selbst von der Polizei nicht dauerhaft vertreiben ließen. Nach wenigen Tagen wurden die etwa 2.000 Juden nach und nach wieder in die Zwangsarbeit entlassen. Jahrzehntelang war dieser Protest nahezu unbekannt geblieben, obgleich unmittelbar nach Kriegsende bereits Berichte veröffentlicht worden waren. Und dann wurde der Protest gleichsam entdeckt und in Erzählungen und medialen Darstellungen ausgeschmückt, bald erschien er als schier unglaubliche Massendemonstration von bis zu 6.000 Frauen gegen die Judenvernichtung. Tatsächlich waren die Umstände diktatorische: Die Frauen standen in kleinen Gruppen in der Rosenstraße, riefen mitunter auch Parolen zur Freilassung ihrer Männer, aber dass die Rosenstraße „schwarz vor Menschen“ gewesen sei, dass ein „fließender Demonstrationszug“ die Straße beherrscht habe, sind wohl nachträgliche Erfindungen. Der Protest hat stattgefunden, auch Goebbels berichtet davon in seinem Tagebuch, aber es gibt darüber hinaus keine zeitgenössischen Quellen, sondern nur spätere Erinnerungen. In Wirklichkeit warendie Männer aus den privilegierten Mischehen zu diesem Zeitpunkt wohl unbeabsichtigt festgenommen worden, weshalb ihre Freilassung nach Überprüfung ihres Status auch möglich wurde; alle anderen ebenfalls Verhafteten wurden deportiert und größtenteils sofort vergast. Wahrscheinlich geht die Freilassung der 2.000 Berliner Juden nicht auf den Frauenprotest in der Rosenstraße zurück, sondern auf einen Irrtum in der Verfolgungsbürokratie des „Dritten Reiches“. Dies schmälert die unglaublich couragierte Protestaktion in keiner Weise, sensibilisiert aber für die Gefahren nachträglicher Überhöhung.

Courage ist in gewisser Hinsicht ein Dauerthema des Nachdenkens über Politik und Geschichte. Denn das Heraustreten aus passiver Rezeption, aus bloßem Funktionieren, Mitmachen, ja aus bloßem Konsumieren in ein aktives, systemkritisches Verhaltenist keine Selbstverständlichkeit.Vielmehrist der Handlungsbogen zwischen Mitmachen und Aufbegehren ein (handlungs-)theoretisch und normativ – damit auch demokratietheoretisch – außerordentlich wichtiges Feld. Was bringt Menschen dazu, sich gegen punktuelle oder generelle Entwicklungen zu stellen? Was veranlasst sie, Gefahren für Leib und Leben auf sich und auch auf für Nahestehende zu nehmen? Und noch genauer gefragt: Was bringt Frauen dazu, auf einem Handlungsfeld gleichsam mitzumischen, das oft von Konspiration, Gewalt, Kriminalisierung und Todesgefahr umgeben ist? Antworten hierauf, ja schon das Nachdenken darüber sind für demokratische Entwicklungen bedeutsam, insofern wir in demokratischen Normalzeiten an einer kritisch-aktiven Bürgerschaft interessiert sein müssen, und mit Blick auf Krisenzeiten wissen sollten, welche Bedingungen Widerspruch und Widerstehen fördern, kurz: Wie politische, gesellschaftliche und menschliche Courage entsteht, aufrechterhalten und verteidigt werden kann.

Die Frage nach den Motiven ist dabei eine heikle Angelegenheit. Oft geht es dabei um eine Konfliktsituation, um existenzielle Konflikte zwischen verschiedenen Normen, die gerade mit der traditionellen Erziehung und den gesellschaftlichen Rollen von Frauen kollidieren. Es sind jedoch auch Fälle überliefert, in denen Frauen mutiger waren als Männer. So etwa die Lübeckerin Hanna G., die regimekritische Flugblätter verteilte, deren Mann freilich Angst vor den gefährlichen Folgen der Aktion hatte.

EINÄUGIGE ERINNERUNG

Wie kommt es, dass bis heute so wenige Frauen als Handelnde im Nationalsozialismus einem größeren Publikum bekannt sind? Machen Sie mal einen Test bei sich selbst: Wer fällt Ihnen spontan ein? Wahrscheinlich Sophie Scholl, vielleicht noch die „Frauen des 20. Juli 1944“, aber meistens ist das alles.

Gewiss hat die Frauenforschung, überhaupt die historische Forschung der letzten zwei Jahrzehnte viel dazu beigetragen, Frauen auch als aktiv Widerstehende zu würdigen. Aber warum sind diese Frauen so marginal in der Erinnerungskultur präsent? Warum gibt es so wenige Ausstellungen wie die hier zu sehende über „Mutige Frauen“? Warum wird alljährlich an Stauffenbergs Hitler-Attentat, aber nur selten – von der Präsenz im Geschichtsbewusstsein ganz zu schweigen – an den Frauenprotest in der Rosenstraße erinnert?

Solche Fragen zeigen, dass wir es mit selektiven, oft ritualisierten Traditionen zu haben, die sich nur langsam nennenswert verändern. Geht man diesen Fragen nach, dann zeigt sich, dass unser kollektives Gedächtnis an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts viel mit politischen Legitimationsinteressen der Gegenwart zu tun hat – und dabei leider dem Gegenwartsbewusstsein der Gesellschaft oft weit hinterherhinkt. Denn kollektive Gedächtnisse, also die vorherrschenden, offiziellen resp. offiziösen Geschichtsbilder sind Teil des Machtgefüges einer Gesellschaft.

FAZIT: „HABE DEN MUT…“

Ich möchte schließen mit Zitaten zweier Bundespräsidenten.

Im Jahre 1970 hat Bundespräsident Gustav W. Heinemann dazu aufgerufen, „in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann“. Er forderte, „dass ein freiheitlich demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt“.

Und Joachim Gauck hat vor Jahren, als er jedoch noch nicht ins höchste Staatsamt gewählt worden war, darauf hingewiesen, wozu die Erinnerung an frühere Diktaturen dienen sollte: sich vor Augen zu halten, dass wir immer eine Wahl haben. „Das vielen Mögliche aufzuspüren und in Erinnerung zu rufen“, schrieb Gauck v.a. mit Blick auf die DDR.

Heinemann und Gauck verweisen auf den Nutzen von Geschichte zu demokratischen Zwecken in der Gegenwart. Letztlich istes ein Spannungsfeld zwischen freiheitlichem Rechtsbewusstsein und kollektivierendem Gemeinschaftsbewusstsein, zwischen demokratisch-menschenrechtlichen Orientierungen auf der einen Seite und Anpassungsdruck auf der anderen Seite. Ein Problem, das sich zwar in jedem politischen System stellt, das man in Diktaturen aber nicht ignorieren kann, in freiheitli-
chen Demokratien freilich Teil der Selbstaufklärung sein sollte, Selbstaufklärung darüber, wie wir uns zu der Entwicklung der öffentlichen Angelegenheiten verhalten.

Courage als zeitlose Tugend ist historisch interessant, aber v.a. sollte sie uns aus Gegenwartsgründen interessieren, als Mentalitätsbedingung für „Resistenzpotenziale“. Es ist im Grunde eine Frage an alle Sozialisationsagenturen von der Familie über Kindergarten und Schulen bis zu den Hochschulen: Hat die deutsche Diktaturgeschichte, die auch eine Widerstandsgeschichte ist, heute Folgen für Erziehung und Bildung? Welchen Stellenwert haben Widerspruchsgeist und Courage als Lernziele? Wer kann denn heute wirklich eigenständige, ggf. auch zu abweichendem Handeln bereite Köpfe brauchen? Oder umgekehrt gefragt: Können wir nur konforme Staatsbürger/innen in der Demokratie brauchen?

Mit diesen Fragen möchte ich schließen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.